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Die Grenzboten. Jg. 9, 1850, II. Semester. I. Band.

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eine Fee, eine Venus, die einen Gymnasiasten wahnsinnig machen, einen Greis
entzücken kann.

Diese mikroskopischen Studien erstrecken sich über das Sinnliche hinaus, auf
die Welt der Empfindungen, der Leidenschaften, und was das Schlimmste ist, auf
das sittliche Gebiet. In diesem Raffinement, mit dem sie eine ganze Welt wun¬
derbarer Empfindungen und "Emotionen" an die kleinen Ereignisse des gewöhn¬
lichen Lebens anknüpfen, sind die Franzosen uns weit voraus. ES ist das ihre
Art von Sentimentalität. Es ist das in ihrer Literatur nicht neu. In Rousseau's
neuer Heloise wie in seinen Bekenntnissen, deu Imisons äanKoreugeZ von Laclos ist es
fast schon so weit ausgebildet, wie in den neuesten Romanciers, oder man kann die
Spur noch weiter verfolgen. Ich finde diese calculireude Empfindsamkeit schon
in Montaigne. Es hängt das mit der Eigenthümlichkeit der französischen Leiden¬
schaft zusammen. Wie alle Romanen, sind die Franzosen viel rücksichtsloser, stür¬
mischer, unbedingter in dem Ausbruch ihres Affects, als das ruhigere deutsche
Blut; sie sind viel leichter außer sich gesetzt und nicht abgeneigt, diesen Zustand
bis zum äußersten Extrem zu treiben, wo er dem Wahnsinn nahe kommt. Das
ist ein Moment, welches ihrem Drama, ihrem historischen Gemälde, ihrem Kriegs¬
leben und ihrer Rednerbühne sehr zu Gute kommt; wir sind wahre Stümper
dagegen, denn es muß in unserm Gemüth erst lange gähren, che es heraus
kommt. Aber die Franzosen sind dabei gewohnt, sich geistig im Spiegel zu be¬
trachten; sie verlieren sich mit Bewußtsein, sie reflectiren während der Ekstase, sie
setzen sich in Positur, wenn sie sich den Dolch in's Herz stoßen. Wir halten ein
solches Doppelleben der Leidenschaft leicht für Unwahrheit, mit Unrecht, denn
man kann von jenen Beigedauken uicht mit Hamlet sagen, daß durch sie die an-
geborne Farbe der Entschlossenheit angekränkelt wird; aber das Herz wird durch
eine solch? fliegende Gluth allerdings nicht gebildet, es geht beständig aus Frost
in Hitze, aus Hitze in Frost über, und es ist nur ein Schein, wenn man die To¬
talität des Lebens in diese Einheit der Empfindung versenkt glaubt. Zuweilen
ist die ganz kalte, raffinirte, gemeine Berechnung, die dem Augenblick vorangeht,
wo die Augen rollen, die Haare sich sträuben, die Faust sich ballt, gerade uner¬
träglich. Balzac ist in diesen plötzlichen Uebergängen am stärksten, wenn er auch
in Beziehung auf die Breite seiner Emotionen Frvdäric Souli" bedeutend nach¬
steht. Bei diesem sind die psychologisch zergliederte" Blicke, in denen eine ganze
Welt von Schmerz und Seligkeit, Haß und Liebe sich ausströmt, so zahlreich,
daß man zuletzt alle Aufmerksamkeit verliert. Bei Balzac geht das Raffinement
der Empfindung zuweilen geradezu in Blasphemie über, es ist ihm nichts zu heilig,
es vor dem unreinen Hauch der Begierde zu hüten. Durch dieses beständige
Versteckspielen kommt etwas Verhaltenes, Gekniffenes in die Leidenschaft, das
auch in den Charakter übergeht; das Sondirmesser, das der Mensch in seine
eigene Wunde legt, ist so kalt und scharf, daß man nicht glauben kann, er selber


Grenzvoten. III. 1850. 54

eine Fee, eine Venus, die einen Gymnasiasten wahnsinnig machen, einen Greis
entzücken kann.

Diese mikroskopischen Studien erstrecken sich über das Sinnliche hinaus, auf
die Welt der Empfindungen, der Leidenschaften, und was das Schlimmste ist, auf
das sittliche Gebiet. In diesem Raffinement, mit dem sie eine ganze Welt wun¬
derbarer Empfindungen und „Emotionen" an die kleinen Ereignisse des gewöhn¬
lichen Lebens anknüpfen, sind die Franzosen uns weit voraus. ES ist das ihre
Art von Sentimentalität. Es ist das in ihrer Literatur nicht neu. In Rousseau's
neuer Heloise wie in seinen Bekenntnissen, deu Imisons äanKoreugeZ von Laclos ist es
fast schon so weit ausgebildet, wie in den neuesten Romanciers, oder man kann die
Spur noch weiter verfolgen. Ich finde diese calculireude Empfindsamkeit schon
in Montaigne. Es hängt das mit der Eigenthümlichkeit der französischen Leiden¬
schaft zusammen. Wie alle Romanen, sind die Franzosen viel rücksichtsloser, stür¬
mischer, unbedingter in dem Ausbruch ihres Affects, als das ruhigere deutsche
Blut; sie sind viel leichter außer sich gesetzt und nicht abgeneigt, diesen Zustand
bis zum äußersten Extrem zu treiben, wo er dem Wahnsinn nahe kommt. Das
ist ein Moment, welches ihrem Drama, ihrem historischen Gemälde, ihrem Kriegs¬
leben und ihrer Rednerbühne sehr zu Gute kommt; wir sind wahre Stümper
dagegen, denn es muß in unserm Gemüth erst lange gähren, che es heraus
kommt. Aber die Franzosen sind dabei gewohnt, sich geistig im Spiegel zu be¬
trachten; sie verlieren sich mit Bewußtsein, sie reflectiren während der Ekstase, sie
setzen sich in Positur, wenn sie sich den Dolch in's Herz stoßen. Wir halten ein
solches Doppelleben der Leidenschaft leicht für Unwahrheit, mit Unrecht, denn
man kann von jenen Beigedauken uicht mit Hamlet sagen, daß durch sie die an-
geborne Farbe der Entschlossenheit angekränkelt wird; aber das Herz wird durch
eine solch? fliegende Gluth allerdings nicht gebildet, es geht beständig aus Frost
in Hitze, aus Hitze in Frost über, und es ist nur ein Schein, wenn man die To¬
talität des Lebens in diese Einheit der Empfindung versenkt glaubt. Zuweilen
ist die ganz kalte, raffinirte, gemeine Berechnung, die dem Augenblick vorangeht,
wo die Augen rollen, die Haare sich sträuben, die Faust sich ballt, gerade uner¬
träglich. Balzac ist in diesen plötzlichen Uebergängen am stärksten, wenn er auch
in Beziehung auf die Breite seiner Emotionen Frvdäric Souli« bedeutend nach¬
steht. Bei diesem sind die psychologisch zergliederte« Blicke, in denen eine ganze
Welt von Schmerz und Seligkeit, Haß und Liebe sich ausströmt, so zahlreich,
daß man zuletzt alle Aufmerksamkeit verliert. Bei Balzac geht das Raffinement
der Empfindung zuweilen geradezu in Blasphemie über, es ist ihm nichts zu heilig,
es vor dem unreinen Hauch der Begierde zu hüten. Durch dieses beständige
Versteckspielen kommt etwas Verhaltenes, Gekniffenes in die Leidenschaft, das
auch in den Charakter übergeht; das Sondirmesser, das der Mensch in seine
eigene Wunde legt, ist so kalt und scharf, daß man nicht glauben kann, er selber


Grenzvoten. III. 1850. 54
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 9, 1850, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341568_85583/433>, abgerufen am 01.09.2024.