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Die Grenzboten. Jg. 9, 1850, II. Semester. I. Band.

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das Herz, das Kind von dem Rücken in den Busen zu verpflanzen: denn die
Muskeln wurden schlaff und trugen die Last uicht mehr.

Das Mittelalter war weit davon entfernt, unter den Laien sogenannte denkende
Christen zu besitzen. Der Laie war noch uicht so mit dem Dogma verwickelt, um
es uicht gern zu sehen, daß ihm auf deu Concilien durch Stimmenmehrheit ent¬
schieden wurde, ob Christus Homousios oder Homusios war, und daß der unfehl¬
bare Pabst ihn über die unbefleckte Empfängnis) Maria aufklärte. Die Grübelei
über das Dogma war das Privilegium weniger Auserwählten: das waren die
Doctores irrskruA-rdlles, die ^i^ilei, die ^ristawUevrum ^rlstoteliLissmü, die
^mräatissimi, die Soliäi, die solennen, seraphischen, subtilen, die Herren
<Ze pemra torti, die Stupores aurai, welche über Alles Auskunft zu geben wußten,
PÜ onus soidilo cliscutiLdaut.

Nunmehr wollte Jeder ein vucwr kunäatissimus sein, der über seinen Gott
und über seines Gottes Sohn die triftigste Auskunft zu geben wisse. Die Refor¬
mation gab jedem Christen die Bibel in die Hand, sie machte den denkenden Geist
des BibelleserS zum Richter, welche Satzung göttlich, welche Menschenwerk sei:
sie dachte uicht daran, den Menschen vom Dogma frei zu macheu, souderu sie
wollte ihn nunmehr dahin bringen, durch innerliche Arbeit ein Knecht des Dogmas
zu sein, durch geistige Erringung sich dem Dogma anzueignen."--

Soweit Edgar Bauer. --

Es ist nicht der Inhalt dieser Diatriben, der fromme Gemüther scandalisiren
wird, es ließe sich das Alles vielmehr aus eine Art sagen, daß daraus ein großes
Lob sür das Christenthum hervorginge; es ist das sogar von demokratischer Seite
mehrfach geschehen. Nur in der burschikosen Ausdrucksweise liegt das Anstößige.
Da es unser Geschäft nicht ist, Anstoß zu nehmen, so begnügen wir uns damit,
jene antichnstlichen Dithyramben zu analysiren.

Die Geschichtschreibung wird einem Zeitalter nie gerecht werden, gegen welches
sie sich von vornherein ironisch verhält; so wenig ein Musäus oder Wieland gute
Mährchen schreiben werden. Die Darstellung einer Zeit, über welche sich der
bleiche Schatten der spöttischen Kritik breitet, wird ein Zerrbild. So wie der
Maler ein Gesicht, so muß der Historiker die Zeit, die er darstellen will, wenig¬
stens bis zu einem gewissen Grade lieben, um sie getreu wiederzugeben. Hier
haben wir nur eine Carricatur des Christenthums, wie der Reformation.

Dennoch, lernen wir etwas daraus. Man hat bisher das Zeitalter der Re¬
formation entweder nach dem Rationalismus der schottischen Schule (Robertson)
so ins Allgemeine, Gebildete umgedichtet, daß es ganz seine Bestimmtheit verlor,
daß mau sich einbilden konnte, die Luther, Thomas Münzer n. s. w. hätten
gerade so gesprochen und sich gerade so geberdet, als unsere Bekannten aus dieser
oder jener Straße. Mau hat den qualitativen Unterschied jenes Zeitalters von
dem unsrigen ganz aus deu Augen gelassen. Oder man hat, wie Leopold Ranke,


das Herz, das Kind von dem Rücken in den Busen zu verpflanzen: denn die
Muskeln wurden schlaff und trugen die Last uicht mehr.

Das Mittelalter war weit davon entfernt, unter den Laien sogenannte denkende
Christen zu besitzen. Der Laie war noch uicht so mit dem Dogma verwickelt, um
es uicht gern zu sehen, daß ihm auf deu Concilien durch Stimmenmehrheit ent¬
schieden wurde, ob Christus Homousios oder Homusios war, und daß der unfehl¬
bare Pabst ihn über die unbefleckte Empfängnis) Maria aufklärte. Die Grübelei
über das Dogma war das Privilegium weniger Auserwählten: das waren die
Doctores irrskruA-rdlles, die ^i^ilei, die ^ristawUevrum ^rlstoteliLissmü, die
^mräatissimi, die Soliäi, die solennen, seraphischen, subtilen, die Herren
<Ze pemra torti, die Stupores aurai, welche über Alles Auskunft zu geben wußten,
PÜ onus soidilo cliscutiLdaut.

Nunmehr wollte Jeder ein vucwr kunäatissimus sein, der über seinen Gott
und über seines Gottes Sohn die triftigste Auskunft zu geben wisse. Die Refor¬
mation gab jedem Christen die Bibel in die Hand, sie machte den denkenden Geist
des BibelleserS zum Richter, welche Satzung göttlich, welche Menschenwerk sei:
sie dachte uicht daran, den Menschen vom Dogma frei zu macheu, souderu sie
wollte ihn nunmehr dahin bringen, durch innerliche Arbeit ein Knecht des Dogmas
zu sein, durch geistige Erringung sich dem Dogma anzueignen."--

Soweit Edgar Bauer. —

Es ist nicht der Inhalt dieser Diatriben, der fromme Gemüther scandalisiren
wird, es ließe sich das Alles vielmehr aus eine Art sagen, daß daraus ein großes
Lob sür das Christenthum hervorginge; es ist das sogar von demokratischer Seite
mehrfach geschehen. Nur in der burschikosen Ausdrucksweise liegt das Anstößige.
Da es unser Geschäft nicht ist, Anstoß zu nehmen, so begnügen wir uns damit,
jene antichnstlichen Dithyramben zu analysiren.

Die Geschichtschreibung wird einem Zeitalter nie gerecht werden, gegen welches
sie sich von vornherein ironisch verhält; so wenig ein Musäus oder Wieland gute
Mährchen schreiben werden. Die Darstellung einer Zeit, über welche sich der
bleiche Schatten der spöttischen Kritik breitet, wird ein Zerrbild. So wie der
Maler ein Gesicht, so muß der Historiker die Zeit, die er darstellen will, wenig¬
stens bis zu einem gewissen Grade lieben, um sie getreu wiederzugeben. Hier
haben wir nur eine Carricatur des Christenthums, wie der Reformation.

Dennoch, lernen wir etwas daraus. Man hat bisher das Zeitalter der Re¬
formation entweder nach dem Rationalismus der schottischen Schule (Robertson)
so ins Allgemeine, Gebildete umgedichtet, daß es ganz seine Bestimmtheit verlor,
daß mau sich einbilden konnte, die Luther, Thomas Münzer n. s. w. hätten
gerade so gesprochen und sich gerade so geberdet, als unsere Bekannten aus dieser
oder jener Straße. Mau hat den qualitativen Unterschied jenes Zeitalters von
dem unsrigen ganz aus deu Augen gelassen. Oder man hat, wie Leopold Ranke,


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[0320] das Herz, das Kind von dem Rücken in den Busen zu verpflanzen: denn die Muskeln wurden schlaff und trugen die Last uicht mehr. Das Mittelalter war weit davon entfernt, unter den Laien sogenannte denkende Christen zu besitzen. Der Laie war noch uicht so mit dem Dogma verwickelt, um es uicht gern zu sehen, daß ihm auf deu Concilien durch Stimmenmehrheit ent¬ schieden wurde, ob Christus Homousios oder Homusios war, und daß der unfehl¬ bare Pabst ihn über die unbefleckte Empfängnis) Maria aufklärte. Die Grübelei über das Dogma war das Privilegium weniger Auserwählten: das waren die Doctores irrskruA-rdlles, die ^i^ilei, die ^ristawUevrum ^rlstoteliLissmü, die ^mräatissimi, die Soliäi, die solennen, seraphischen, subtilen, die Herren <Ze pemra torti, die Stupores aurai, welche über Alles Auskunft zu geben wußten, PÜ onus soidilo cliscutiLdaut. Nunmehr wollte Jeder ein vucwr kunäatissimus sein, der über seinen Gott und über seines Gottes Sohn die triftigste Auskunft zu geben wisse. Die Refor¬ mation gab jedem Christen die Bibel in die Hand, sie machte den denkenden Geist des BibelleserS zum Richter, welche Satzung göttlich, welche Menschenwerk sei: sie dachte uicht daran, den Menschen vom Dogma frei zu macheu, souderu sie wollte ihn nunmehr dahin bringen, durch innerliche Arbeit ein Knecht des Dogmas zu sein, durch geistige Erringung sich dem Dogma anzueignen."-- Soweit Edgar Bauer. — Es ist nicht der Inhalt dieser Diatriben, der fromme Gemüther scandalisiren wird, es ließe sich das Alles vielmehr aus eine Art sagen, daß daraus ein großes Lob sür das Christenthum hervorginge; es ist das sogar von demokratischer Seite mehrfach geschehen. Nur in der burschikosen Ausdrucksweise liegt das Anstößige. Da es unser Geschäft nicht ist, Anstoß zu nehmen, so begnügen wir uns damit, jene antichnstlichen Dithyramben zu analysiren. Die Geschichtschreibung wird einem Zeitalter nie gerecht werden, gegen welches sie sich von vornherein ironisch verhält; so wenig ein Musäus oder Wieland gute Mährchen schreiben werden. Die Darstellung einer Zeit, über welche sich der bleiche Schatten der spöttischen Kritik breitet, wird ein Zerrbild. So wie der Maler ein Gesicht, so muß der Historiker die Zeit, die er darstellen will, wenig¬ stens bis zu einem gewissen Grade lieben, um sie getreu wiederzugeben. Hier haben wir nur eine Carricatur des Christenthums, wie der Reformation. Dennoch, lernen wir etwas daraus. Man hat bisher das Zeitalter der Re¬ formation entweder nach dem Rationalismus der schottischen Schule (Robertson) so ins Allgemeine, Gebildete umgedichtet, daß es ganz seine Bestimmtheit verlor, daß mau sich einbilden konnte, die Luther, Thomas Münzer n. s. w. hätten gerade so gesprochen und sich gerade so geberdet, als unsere Bekannten aus dieser oder jener Straße. Mau hat den qualitativen Unterschied jenes Zeitalters von dem unsrigen ganz aus deu Augen gelassen. Oder man hat, wie Leopold Ranke,

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 9, 1850, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341568_85583/320>, abgerufen am 06.10.2024.