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Die Grenzboten. Jg. 9, 1850, II. Semester. I. Band.

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gründlich niederschlägt, wenn man der Wurzel nachgrade, dein Freidenker in reli¬
giösen Dingen. "Nach unserer christlichen Erkenntnis!, sagt Stahl, wissen und
empfinden wir, daß alle gegebene Ordnung und Obrigkeit eine Ordnung Gottes
und eine Fügung Gottes ist. Tiefer aufgefaßt ist deshalb das Princip der Le¬
gitimität kein anderes als das der Obrigkeit von Gott. Es ist die Achtung und
Scheu vor dem gesetzlichen Zustand, gerade weil wir ihn nicht selbst gemacht,
sondern als durch ein höheres Wollen über uns geworden sehen, im Gegensatz
zu der Frechheit und Ruchlosigkeit der Revolution, nach welcher der Mensch Alles,
was er uicht nach seinem Nachdenken und durch seinen Willen gemacht, vernichtet,
damit die sittliche Welt mir sein Werk und nur Gegenstand seiner Herrschaft sei.
Dies ist der innerste Kern der beiden Hauptgcgcnsätze unserer Zeit auf politischem
Gebiet, wenn er auch nicht Allen zum Bewußtsein kommt. Es gibt keinen Mit¬
telweg: wer nicht Legitimist ist, ist nothwendig Revolutionär, mag er anch durch
Temperament oder durch anderweite sittliche EharaktcMge noch so sehr gegen
jede Maßregel äußerer Gewalt sich sträuben."

Stahl ist kein eigentlicher Historiker, und es fehlt ihm auch der geschichtliche
Sinn, sonst würde er sich erinnert haben, daß das Christenthum keineswegs im¬
mer eine polizeiliche Handhabe für das sogenannte Bestehende gewesen ist. Die
göttliche Ordnung, wie sie der Christ begreift, ist eine andere, als die Welt sie bietet,
und in jeder Zeit, wo der christliche Geist sich zu einer productiven Kraft steigerte,
hat er gegen das Reich dieser Welt eine revolutionäre Energie entwickelt, die
sich mit keiner andern vergleichen läßt. Wer hat im Mittelalter die Baude des
Unterthanenverhältnissc gegen die Obrigkeit von Gott so systematisch aufgelockert,
daß sie endlich rissen? Das Papstthum. Wer hat in der "euern Geschichte die
Theorie von der Volkssouveränetät zuerst wissenschaftlich erörtert, und praktisch
bis zum Bruch des LehncideS, ja bis zum Königsmord getrieben? Die Jesuiten.
Wer hat zuerst der Welt das Schauspiel von der Hinrichtung eines Königs und
der Gründung einer Republik auf deu Trümmern des umgestürzten Throns ge-,
geben? Die Puritaner und die Männer der fünften Monarchie. -- Nun wird
selbst ein Theolog es kaum zu bestreiten wagen, daß Gregor VA., daß Ma¬
riana und Milton sehr specifisch christliche Erscheinungen sind.

Aber der Theolog wird anch in Zeiten, wie die unsrige, wo er sämmt-
lich e Erscheinungen des religiösen Geistes heraufbeschwört, um die Revolution zu
bändigen, immer eine rc-servallu montirlis im Sinn behalten. Während er auf
der einen Seite alle religiösen Richtungen, so sehr sie einander widersprechen,
mit der Dignität des conservativen Princips, des Princips der Legitimität be¬
kleidet, wird er im Stillen doch nnr seine eigne Richtung meinen. Unter den
christlichen Parteien aber, die in der Geschichte eine Rolle gespielt haben, sind
es nnr zwei, in denen sich jene Theorie von der Obrigkeit von Gottes Gnaden
verkörpert hat: die englische Episkopalkirche und die Lutheraner in Deutschland.


gründlich niederschlägt, wenn man der Wurzel nachgrade, dein Freidenker in reli¬
giösen Dingen. „Nach unserer christlichen Erkenntnis!, sagt Stahl, wissen und
empfinden wir, daß alle gegebene Ordnung und Obrigkeit eine Ordnung Gottes
und eine Fügung Gottes ist. Tiefer aufgefaßt ist deshalb das Princip der Le¬
gitimität kein anderes als das der Obrigkeit von Gott. Es ist die Achtung und
Scheu vor dem gesetzlichen Zustand, gerade weil wir ihn nicht selbst gemacht,
sondern als durch ein höheres Wollen über uns geworden sehen, im Gegensatz
zu der Frechheit und Ruchlosigkeit der Revolution, nach welcher der Mensch Alles,
was er uicht nach seinem Nachdenken und durch seinen Willen gemacht, vernichtet,
damit die sittliche Welt mir sein Werk und nur Gegenstand seiner Herrschaft sei.
Dies ist der innerste Kern der beiden Hauptgcgcnsätze unserer Zeit auf politischem
Gebiet, wenn er auch nicht Allen zum Bewußtsein kommt. Es gibt keinen Mit¬
telweg: wer nicht Legitimist ist, ist nothwendig Revolutionär, mag er anch durch
Temperament oder durch anderweite sittliche EharaktcMge noch so sehr gegen
jede Maßregel äußerer Gewalt sich sträuben."

Stahl ist kein eigentlicher Historiker, und es fehlt ihm auch der geschichtliche
Sinn, sonst würde er sich erinnert haben, daß das Christenthum keineswegs im¬
mer eine polizeiliche Handhabe für das sogenannte Bestehende gewesen ist. Die
göttliche Ordnung, wie sie der Christ begreift, ist eine andere, als die Welt sie bietet,
und in jeder Zeit, wo der christliche Geist sich zu einer productiven Kraft steigerte,
hat er gegen das Reich dieser Welt eine revolutionäre Energie entwickelt, die
sich mit keiner andern vergleichen läßt. Wer hat im Mittelalter die Baude des
Unterthanenverhältnissc gegen die Obrigkeit von Gott so systematisch aufgelockert,
daß sie endlich rissen? Das Papstthum. Wer hat in der »euern Geschichte die
Theorie von der Volkssouveränetät zuerst wissenschaftlich erörtert, und praktisch
bis zum Bruch des LehncideS, ja bis zum Königsmord getrieben? Die Jesuiten.
Wer hat zuerst der Welt das Schauspiel von der Hinrichtung eines Königs und
der Gründung einer Republik auf deu Trümmern des umgestürzten Throns ge-,
geben? Die Puritaner und die Männer der fünften Monarchie. — Nun wird
selbst ein Theolog es kaum zu bestreiten wagen, daß Gregor VA., daß Ma¬
riana und Milton sehr specifisch christliche Erscheinungen sind.

Aber der Theolog wird anch in Zeiten, wie die unsrige, wo er sämmt-
lich e Erscheinungen des religiösen Geistes heraufbeschwört, um die Revolution zu
bändigen, immer eine rc-servallu montirlis im Sinn behalten. Während er auf
der einen Seite alle religiösen Richtungen, so sehr sie einander widersprechen,
mit der Dignität des conservativen Princips, des Princips der Legitimität be¬
kleidet, wird er im Stillen doch nnr seine eigne Richtung meinen. Unter den
christlichen Parteien aber, die in der Geschichte eine Rolle gespielt haben, sind
es nnr zwei, in denen sich jene Theorie von der Obrigkeit von Gottes Gnaden
verkörpert hat: die englische Episkopalkirche und die Lutheraner in Deutschland.


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[0316] gründlich niederschlägt, wenn man der Wurzel nachgrade, dein Freidenker in reli¬ giösen Dingen. „Nach unserer christlichen Erkenntnis!, sagt Stahl, wissen und empfinden wir, daß alle gegebene Ordnung und Obrigkeit eine Ordnung Gottes und eine Fügung Gottes ist. Tiefer aufgefaßt ist deshalb das Princip der Le¬ gitimität kein anderes als das der Obrigkeit von Gott. Es ist die Achtung und Scheu vor dem gesetzlichen Zustand, gerade weil wir ihn nicht selbst gemacht, sondern als durch ein höheres Wollen über uns geworden sehen, im Gegensatz zu der Frechheit und Ruchlosigkeit der Revolution, nach welcher der Mensch Alles, was er uicht nach seinem Nachdenken und durch seinen Willen gemacht, vernichtet, damit die sittliche Welt mir sein Werk und nur Gegenstand seiner Herrschaft sei. Dies ist der innerste Kern der beiden Hauptgcgcnsätze unserer Zeit auf politischem Gebiet, wenn er auch nicht Allen zum Bewußtsein kommt. Es gibt keinen Mit¬ telweg: wer nicht Legitimist ist, ist nothwendig Revolutionär, mag er anch durch Temperament oder durch anderweite sittliche EharaktcMge noch so sehr gegen jede Maßregel äußerer Gewalt sich sträuben." Stahl ist kein eigentlicher Historiker, und es fehlt ihm auch der geschichtliche Sinn, sonst würde er sich erinnert haben, daß das Christenthum keineswegs im¬ mer eine polizeiliche Handhabe für das sogenannte Bestehende gewesen ist. Die göttliche Ordnung, wie sie der Christ begreift, ist eine andere, als die Welt sie bietet, und in jeder Zeit, wo der christliche Geist sich zu einer productiven Kraft steigerte, hat er gegen das Reich dieser Welt eine revolutionäre Energie entwickelt, die sich mit keiner andern vergleichen läßt. Wer hat im Mittelalter die Baude des Unterthanenverhältnissc gegen die Obrigkeit von Gott so systematisch aufgelockert, daß sie endlich rissen? Das Papstthum. Wer hat in der »euern Geschichte die Theorie von der Volkssouveränetät zuerst wissenschaftlich erörtert, und praktisch bis zum Bruch des LehncideS, ja bis zum Königsmord getrieben? Die Jesuiten. Wer hat zuerst der Welt das Schauspiel von der Hinrichtung eines Königs und der Gründung einer Republik auf deu Trümmern des umgestürzten Throns ge-, geben? Die Puritaner und die Männer der fünften Monarchie. — Nun wird selbst ein Theolog es kaum zu bestreiten wagen, daß Gregor VA., daß Ma¬ riana und Milton sehr specifisch christliche Erscheinungen sind. Aber der Theolog wird anch in Zeiten, wie die unsrige, wo er sämmt- lich e Erscheinungen des religiösen Geistes heraufbeschwört, um die Revolution zu bändigen, immer eine rc-servallu montirlis im Sinn behalten. Während er auf der einen Seite alle religiösen Richtungen, so sehr sie einander widersprechen, mit der Dignität des conservativen Princips, des Princips der Legitimität be¬ kleidet, wird er im Stillen doch nnr seine eigne Richtung meinen. Unter den christlichen Parteien aber, die in der Geschichte eine Rolle gespielt haben, sind es nnr zwei, in denen sich jene Theorie von der Obrigkeit von Gottes Gnaden verkörpert hat: die englische Episkopalkirche und die Lutheraner in Deutschland.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 9, 1850, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341568_85583/316>, abgerufen am 27.07.2024.