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Die Grenzboten. Jg. 9, 1850, II. Semester. I. Band.

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Mit dem Einfluß Beethoven'S hängt das Uebergewicht der Instrumental-
musik über die Vocalmusik zusammen, das aber, wie ich glaube, bereits im Sin¬
ken ist. So wie es aus 5em Streben zur Tiefe hin hervorgegangen ist und darin
seine volle Berechtigung hat, so ist auch die Reaction berechtigt, die sich ans
das Princip der plastischen Klarheit stützt. Denn die plastische Klarheit beruht
nicht bloß in der innern Planmäßigkeit der Architektonik, sondern auch in der
Beschaffenheit des Materials, und dies bietet in plastischer Vollendung nur die
menschliche Stimme dar. Hoffentlich wird die Periode der Instrumentalmusik, in
der wir jetzt leben, für die Musik den bleibenden Nutze" haben, daß wir die
Strenge ihres Baues und die wunderbare Tiefe der Erfindung, die den ge¬
heimsten Gedanken und Regungen des Herzens parallel geht, uicht mehr hingeben
um eiuen äußern Schimmer oberflächlicher Klarheit. Es zeigt sich dies bereits
in der Art und Weise, wie die Gegenwart dramatische Musik neu' zu gründen
sich bemüht. Das Studium Beethoven'scher Symphonien beginnt auch hier seine
Früchte zu tragen. Es ist natürlich, daß das Interesse an der Oper unter der
hervortretenden Bedeutuug der Symphonie nicht so gelitten hat, als das an der
Kirchenmusik, deren großen rein musikalischen Werth mau heutzutage fast ganz ver¬
kennt. Innere und äußere Gründe wirken zusammen, um der Singakademie immer
mehr Terrain zu rauben. Der Stern'sche Gesangverein, der vor zwei Jahren
entstand, ist nur als eine zahlreiche und fleißige Vereinigung von Dilettanten zu
betrachten. Außer diesen beiden Vereinen giebt es noch eine große Zahl kleinerer,
die meistens den persönlichen Interessen ihrer Unternehmer dienen und daher
keine allgemeine künstlerische Bedeutung haben. Eine solche hat der 1843 ge¬
gründete Domchor, der, ohne bis jetzt im eigentlichen Sinne ein Vertreter kirch¬
licher Musik zu sein, doch dadurch genützt hat, daß er zuerst wieder uns eine
gewisse Reinlichkeit in der Ausführung von Chorgesängen kennen lehrte. Ihm
stehen gegenwärtig Umgestaltungen bevor, deren Werth sich noch nicht ermessen
läßt. Je weniger aber unsere öffentlichen Institute für die Hebung des Ge¬
sanges thun, desto mehr beginnt sich zu Gunsten desselben im Kleinen zu rege".
Ein seltsames Schicksal hat es gefügt, daß italienische Gesanglehrer von bedeu-
tenderem Ruf sich nie in Berlin niedergelassen haben; gerade dies wird aber
zu der Entwickelung dessen beitragen, wozu die Natur der Sache führt und wozu
gerade Berlin der günstigste Boden zu sein scheint, zu der Entwickelung einer
echt deutschen Gesangskunst. Das Interesse, mit dem sich alle musikalischen
Kreise Berlins seit einiger Zeit diesem Gebiet der Technik zuzuwenden beginnen,
scheint ein Anzeichen, daß eine neue Periode der Vocalmusik beginnt. --
Es fühlt fast ein Jeder, daß der heutige Zustand der Musik eine Uebergangs-
epoche ist, entweder in's Nichts -- oder in eine neue Periode, die auf einer
tiefern Weltanschauung beruhend sich zu klaren, bestimmten Tongestalten hindurch¬
gearbeitet hätte. Wenn wir die Jugendarbeiten der berühmtesten Meister der


Mit dem Einfluß Beethoven'S hängt das Uebergewicht der Instrumental-
musik über die Vocalmusik zusammen, das aber, wie ich glaube, bereits im Sin¬
ken ist. So wie es aus 5em Streben zur Tiefe hin hervorgegangen ist und darin
seine volle Berechtigung hat, so ist auch die Reaction berechtigt, die sich ans
das Princip der plastischen Klarheit stützt. Denn die plastische Klarheit beruht
nicht bloß in der innern Planmäßigkeit der Architektonik, sondern auch in der
Beschaffenheit des Materials, und dies bietet in plastischer Vollendung nur die
menschliche Stimme dar. Hoffentlich wird die Periode der Instrumentalmusik, in
der wir jetzt leben, für die Musik den bleibenden Nutze» haben, daß wir die
Strenge ihres Baues und die wunderbare Tiefe der Erfindung, die den ge¬
heimsten Gedanken und Regungen des Herzens parallel geht, uicht mehr hingeben
um eiuen äußern Schimmer oberflächlicher Klarheit. Es zeigt sich dies bereits
in der Art und Weise, wie die Gegenwart dramatische Musik neu' zu gründen
sich bemüht. Das Studium Beethoven'scher Symphonien beginnt auch hier seine
Früchte zu tragen. Es ist natürlich, daß das Interesse an der Oper unter der
hervortretenden Bedeutuug der Symphonie nicht so gelitten hat, als das an der
Kirchenmusik, deren großen rein musikalischen Werth mau heutzutage fast ganz ver¬
kennt. Innere und äußere Gründe wirken zusammen, um der Singakademie immer
mehr Terrain zu rauben. Der Stern'sche Gesangverein, der vor zwei Jahren
entstand, ist nur als eine zahlreiche und fleißige Vereinigung von Dilettanten zu
betrachten. Außer diesen beiden Vereinen giebt es noch eine große Zahl kleinerer,
die meistens den persönlichen Interessen ihrer Unternehmer dienen und daher
keine allgemeine künstlerische Bedeutung haben. Eine solche hat der 1843 ge¬
gründete Domchor, der, ohne bis jetzt im eigentlichen Sinne ein Vertreter kirch¬
licher Musik zu sein, doch dadurch genützt hat, daß er zuerst wieder uns eine
gewisse Reinlichkeit in der Ausführung von Chorgesängen kennen lehrte. Ihm
stehen gegenwärtig Umgestaltungen bevor, deren Werth sich noch nicht ermessen
läßt. Je weniger aber unsere öffentlichen Institute für die Hebung des Ge¬
sanges thun, desto mehr beginnt sich zu Gunsten desselben im Kleinen zu rege».
Ein seltsames Schicksal hat es gefügt, daß italienische Gesanglehrer von bedeu-
tenderem Ruf sich nie in Berlin niedergelassen haben; gerade dies wird aber
zu der Entwickelung dessen beitragen, wozu die Natur der Sache führt und wozu
gerade Berlin der günstigste Boden zu sein scheint, zu der Entwickelung einer
echt deutschen Gesangskunst. Das Interesse, mit dem sich alle musikalischen
Kreise Berlins seit einiger Zeit diesem Gebiet der Technik zuzuwenden beginnen,
scheint ein Anzeichen, daß eine neue Periode der Vocalmusik beginnt. —
Es fühlt fast ein Jeder, daß der heutige Zustand der Musik eine Uebergangs-
epoche ist, entweder in's Nichts — oder in eine neue Periode, die auf einer
tiefern Weltanschauung beruhend sich zu klaren, bestimmten Tongestalten hindurch¬
gearbeitet hätte. Wenn wir die Jugendarbeiten der berühmtesten Meister der


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[0311] Mit dem Einfluß Beethoven'S hängt das Uebergewicht der Instrumental- musik über die Vocalmusik zusammen, das aber, wie ich glaube, bereits im Sin¬ ken ist. So wie es aus 5em Streben zur Tiefe hin hervorgegangen ist und darin seine volle Berechtigung hat, so ist auch die Reaction berechtigt, die sich ans das Princip der plastischen Klarheit stützt. Denn die plastische Klarheit beruht nicht bloß in der innern Planmäßigkeit der Architektonik, sondern auch in der Beschaffenheit des Materials, und dies bietet in plastischer Vollendung nur die menschliche Stimme dar. Hoffentlich wird die Periode der Instrumentalmusik, in der wir jetzt leben, für die Musik den bleibenden Nutze» haben, daß wir die Strenge ihres Baues und die wunderbare Tiefe der Erfindung, die den ge¬ heimsten Gedanken und Regungen des Herzens parallel geht, uicht mehr hingeben um eiuen äußern Schimmer oberflächlicher Klarheit. Es zeigt sich dies bereits in der Art und Weise, wie die Gegenwart dramatische Musik neu' zu gründen sich bemüht. Das Studium Beethoven'scher Symphonien beginnt auch hier seine Früchte zu tragen. Es ist natürlich, daß das Interesse an der Oper unter der hervortretenden Bedeutuug der Symphonie nicht so gelitten hat, als das an der Kirchenmusik, deren großen rein musikalischen Werth mau heutzutage fast ganz ver¬ kennt. Innere und äußere Gründe wirken zusammen, um der Singakademie immer mehr Terrain zu rauben. Der Stern'sche Gesangverein, der vor zwei Jahren entstand, ist nur als eine zahlreiche und fleißige Vereinigung von Dilettanten zu betrachten. Außer diesen beiden Vereinen giebt es noch eine große Zahl kleinerer, die meistens den persönlichen Interessen ihrer Unternehmer dienen und daher keine allgemeine künstlerische Bedeutung haben. Eine solche hat der 1843 ge¬ gründete Domchor, der, ohne bis jetzt im eigentlichen Sinne ein Vertreter kirch¬ licher Musik zu sein, doch dadurch genützt hat, daß er zuerst wieder uns eine gewisse Reinlichkeit in der Ausführung von Chorgesängen kennen lehrte. Ihm stehen gegenwärtig Umgestaltungen bevor, deren Werth sich noch nicht ermessen läßt. Je weniger aber unsere öffentlichen Institute für die Hebung des Ge¬ sanges thun, desto mehr beginnt sich zu Gunsten desselben im Kleinen zu rege». Ein seltsames Schicksal hat es gefügt, daß italienische Gesanglehrer von bedeu- tenderem Ruf sich nie in Berlin niedergelassen haben; gerade dies wird aber zu der Entwickelung dessen beitragen, wozu die Natur der Sache führt und wozu gerade Berlin der günstigste Boden zu sein scheint, zu der Entwickelung einer echt deutschen Gesangskunst. Das Interesse, mit dem sich alle musikalischen Kreise Berlins seit einiger Zeit diesem Gebiet der Technik zuzuwenden beginnen, scheint ein Anzeichen, daß eine neue Periode der Vocalmusik beginnt. — Es fühlt fast ein Jeder, daß der heutige Zustand der Musik eine Uebergangs- epoche ist, entweder in's Nichts — oder in eine neue Periode, die auf einer tiefern Weltanschauung beruhend sich zu klaren, bestimmten Tongestalten hindurch¬ gearbeitet hätte. Wenn wir die Jugendarbeiten der berühmtesten Meister der

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 9, 1850, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341568_85583/311>, abgerufen am 27.07.2024.