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Die Grenzboten. Jg. 9, 1850, II. Semester. I. Band.

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geurtheilt. -- Berlin steht hinsichts des Respects, den es vor technischer Vollen¬
dung und dramatischem Genie hat, freilich hinter Italien zurück, wo diese Eigen¬
schaften fast Alles entscheiden und eine unausgebildete Säugen", wenn sie auch
die schönste Stimme von der Welt hätte, es nicht wagen darf, sich öffentlich hören
zu lassen; der natürliche Sinn verleitet uns noch immer zu leicht, einer frischen,
jugendlichen Stimme Vieles zu verzeihen.

Das Streben, Gediegenheit und Ernst in die musikalische Unterhaltung zu
bringen, zeigt sich in einer Neigung, die namentlich seit deu letzten Jahren sieh
mehr und mehr geltend gemacht hat; man sucht vorzugsweise Ensemblestücke zu
studiren. Geht dies allerdings einerseits ans dem Princip deö Dilettantismus
hervor, das darin besteht, nicht Musik zu hören, sondern selbst thätig zu sein, so
ist dies doch nicht der einzige Grund. Der Sinn für Mehrstimmigkeit, für innere
Mannigfaltigkeit ist überhaupt dem Deutschen angeboren, was die Entwickelung
der deutschen Musik sehr deutlich zeigt. Darum zieht man also anch auf dem
lyrischen Gebiet das vierstimmige Lied dein einstimmigen vor. Hiezu kommt, daß
die Lyrik in den letzten Decennien sowohl in poetischer als musikalischer Beziehung
so vielfach ausgeübt und ausgebildet ist, daß das Streben nach etwas Neuem,
ohnehin dnrch die Gewöhnung an Instrumentalmusik befördert, sich naturgemäß
geltend macht. Es zerfällt nun die Mehrzahl unserer musikalischen Zirkel in zwei
Classen: in solche, die bei guten Kräften keine Mühe auf das Einstudiren verwen¬
den und daher nichts Ordentliches zu Tage bringe", und in solche, die zwar Wochen
und Mouate lang an einer Oper oder Partien aus derselben üben, aber wegen
der Mangelhaftigkeit ihrer Kräfte auch nach Jahren ihr Ziel nicht erreichen würden.
Soirven, wie .sie früher von Fanny Hensel ausgingen, kommen gegenwärtig nicht
zu Stande. Ein anderer Uebelstand ist der geringe Umfang von Ensemble'S,
über die sich der musikalische Horizont unserer Dilcttantcukreise erstreckt. Es
könnten die Dilettantcnzirkel sehr nützlich sein, wenn sie sich daraus einlassen
wollten, die bessern Partien der von dem Repertoir verschwundenen Opern ans
dem Dunkel hervorzuziehen; dafür zeigt sich aber nirgends Interesse. In keiner
Stadt leiden die Repertoire's sowohl der öffentlichen Institute, als der gesellschaft¬
lichen Kreise mehr an einer stereotypen Beschränktheit, als in Berlin. Mit Aus¬
nahme der italienischen Oper, die zwar nicht übermäßig mannigfaltig, aber doch
mannigfaltiger ist, als die königliche Oper (das Publicum der italienischem Oper
ist klein; daraus ergiebt sich für die Direction die Nothwendigkeit, einige Ab¬
wechselung in das Repertoire zu bringen), der Trio- und der Quartett-Concerte
herrscht an allen öffentlichen Instituten ein sehr wenig wechselndes Repertoir;
in den dilettantischen Kreisen zeigt sich dieselbe Erscheinung. Es liegt dies zum
Theil an dem Autoritätsglauben des Berliner Publicums. Die festen Schranken,
in die sich der Geschmack einmal begeben hat, zu durchbrechen, ist eine Niesen-
ansgabe. Schubert'sche Justrumcntalcvmpositionen werden ebenso wenig zugelassen,


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geurtheilt. — Berlin steht hinsichts des Respects, den es vor technischer Vollen¬
dung und dramatischem Genie hat, freilich hinter Italien zurück, wo diese Eigen¬
schaften fast Alles entscheiden und eine unausgebildete Säugen», wenn sie auch
die schönste Stimme von der Welt hätte, es nicht wagen darf, sich öffentlich hören
zu lassen; der natürliche Sinn verleitet uns noch immer zu leicht, einer frischen,
jugendlichen Stimme Vieles zu verzeihen.

Das Streben, Gediegenheit und Ernst in die musikalische Unterhaltung zu
bringen, zeigt sich in einer Neigung, die namentlich seit deu letzten Jahren sieh
mehr und mehr geltend gemacht hat; man sucht vorzugsweise Ensemblestücke zu
studiren. Geht dies allerdings einerseits ans dem Princip deö Dilettantismus
hervor, das darin besteht, nicht Musik zu hören, sondern selbst thätig zu sein, so
ist dies doch nicht der einzige Grund. Der Sinn für Mehrstimmigkeit, für innere
Mannigfaltigkeit ist überhaupt dem Deutschen angeboren, was die Entwickelung
der deutschen Musik sehr deutlich zeigt. Darum zieht man also anch auf dem
lyrischen Gebiet das vierstimmige Lied dein einstimmigen vor. Hiezu kommt, daß
die Lyrik in den letzten Decennien sowohl in poetischer als musikalischer Beziehung
so vielfach ausgeübt und ausgebildet ist, daß das Streben nach etwas Neuem,
ohnehin dnrch die Gewöhnung an Instrumentalmusik befördert, sich naturgemäß
geltend macht. Es zerfällt nun die Mehrzahl unserer musikalischen Zirkel in zwei
Classen: in solche, die bei guten Kräften keine Mühe auf das Einstudiren verwen¬
den und daher nichts Ordentliches zu Tage bringe», und in solche, die zwar Wochen
und Mouate lang an einer Oper oder Partien aus derselben üben, aber wegen
der Mangelhaftigkeit ihrer Kräfte auch nach Jahren ihr Ziel nicht erreichen würden.
Soirven, wie .sie früher von Fanny Hensel ausgingen, kommen gegenwärtig nicht
zu Stande. Ein anderer Uebelstand ist der geringe Umfang von Ensemble'S,
über die sich der musikalische Horizont unserer Dilcttantcukreise erstreckt. Es
könnten die Dilettantcnzirkel sehr nützlich sein, wenn sie sich daraus einlassen
wollten, die bessern Partien der von dem Repertoir verschwundenen Opern ans
dem Dunkel hervorzuziehen; dafür zeigt sich aber nirgends Interesse. In keiner
Stadt leiden die Repertoire's sowohl der öffentlichen Institute, als der gesellschaft¬
lichen Kreise mehr an einer stereotypen Beschränktheit, als in Berlin. Mit Aus¬
nahme der italienischen Oper, die zwar nicht übermäßig mannigfaltig, aber doch
mannigfaltiger ist, als die königliche Oper (das Publicum der italienischem Oper
ist klein; daraus ergiebt sich für die Direction die Nothwendigkeit, einige Ab¬
wechselung in das Repertoire zu bringen), der Trio- und der Quartett-Concerte
herrscht an allen öffentlichen Instituten ein sehr wenig wechselndes Repertoir;
in den dilettantischen Kreisen zeigt sich dieselbe Erscheinung. Es liegt dies zum
Theil an dem Autoritätsglauben des Berliner Publicums. Die festen Schranken,
in die sich der Geschmack einmal begeben hat, zu durchbrechen, ist eine Niesen-
ansgabe. Schubert'sche Justrumcntalcvmpositionen werden ebenso wenig zugelassen,


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[0307] geurtheilt. — Berlin steht hinsichts des Respects, den es vor technischer Vollen¬ dung und dramatischem Genie hat, freilich hinter Italien zurück, wo diese Eigen¬ schaften fast Alles entscheiden und eine unausgebildete Säugen», wenn sie auch die schönste Stimme von der Welt hätte, es nicht wagen darf, sich öffentlich hören zu lassen; der natürliche Sinn verleitet uns noch immer zu leicht, einer frischen, jugendlichen Stimme Vieles zu verzeihen. Das Streben, Gediegenheit und Ernst in die musikalische Unterhaltung zu bringen, zeigt sich in einer Neigung, die namentlich seit deu letzten Jahren sieh mehr und mehr geltend gemacht hat; man sucht vorzugsweise Ensemblestücke zu studiren. Geht dies allerdings einerseits ans dem Princip deö Dilettantismus hervor, das darin besteht, nicht Musik zu hören, sondern selbst thätig zu sein, so ist dies doch nicht der einzige Grund. Der Sinn für Mehrstimmigkeit, für innere Mannigfaltigkeit ist überhaupt dem Deutschen angeboren, was die Entwickelung der deutschen Musik sehr deutlich zeigt. Darum zieht man also anch auf dem lyrischen Gebiet das vierstimmige Lied dein einstimmigen vor. Hiezu kommt, daß die Lyrik in den letzten Decennien sowohl in poetischer als musikalischer Beziehung so vielfach ausgeübt und ausgebildet ist, daß das Streben nach etwas Neuem, ohnehin dnrch die Gewöhnung an Instrumentalmusik befördert, sich naturgemäß geltend macht. Es zerfällt nun die Mehrzahl unserer musikalischen Zirkel in zwei Classen: in solche, die bei guten Kräften keine Mühe auf das Einstudiren verwen¬ den und daher nichts Ordentliches zu Tage bringe», und in solche, die zwar Wochen und Mouate lang an einer Oper oder Partien aus derselben üben, aber wegen der Mangelhaftigkeit ihrer Kräfte auch nach Jahren ihr Ziel nicht erreichen würden. Soirven, wie .sie früher von Fanny Hensel ausgingen, kommen gegenwärtig nicht zu Stande. Ein anderer Uebelstand ist der geringe Umfang von Ensemble'S, über die sich der musikalische Horizont unserer Dilcttantcukreise erstreckt. Es könnten die Dilettantcnzirkel sehr nützlich sein, wenn sie sich daraus einlassen wollten, die bessern Partien der von dem Repertoir verschwundenen Opern ans dem Dunkel hervorzuziehen; dafür zeigt sich aber nirgends Interesse. In keiner Stadt leiden die Repertoire's sowohl der öffentlichen Institute, als der gesellschaft¬ lichen Kreise mehr an einer stereotypen Beschränktheit, als in Berlin. Mit Aus¬ nahme der italienischen Oper, die zwar nicht übermäßig mannigfaltig, aber doch mannigfaltiger ist, als die königliche Oper (das Publicum der italienischem Oper ist klein; daraus ergiebt sich für die Direction die Nothwendigkeit, einige Ab¬ wechselung in das Repertoire zu bringen), der Trio- und der Quartett-Concerte herrscht an allen öffentlichen Instituten ein sehr wenig wechselndes Repertoir; in den dilettantischen Kreisen zeigt sich dieselbe Erscheinung. Es liegt dies zum Theil an dem Autoritätsglauben des Berliner Publicums. Die festen Schranken, in die sich der Geschmack einmal begeben hat, zu durchbrechen, ist eine Niesen- ansgabe. Schubert'sche Justrumcntalcvmpositionen werden ebenso wenig zugelassen, 38"-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 9, 1850, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341568_85583/307>, abgerufen am 27.07.2024.