Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 9, 1850, II. Semester. I. Band.

Bild:
<< vorherige Seite

Taubert die Leitung des Concerts übernommen; die Ouvertüre zur Athalia, Chöre
aus Oedipus Cvloncus, ein Psalm und die Walpurgisnacht machten den Inhalt
des Programms aus. Aber der Kampf zwischen dem Ministerium Brandenburg
und der Nationalversammlung hatte so eben begonnen; uoch war die Vertagung
und Dislocirnug der constituirenden Nersaminlnug nicht ausgesprochen, doch fühlte
ein Jeder die verhängnißvolle Katastrophe; die Sorge um das allgemeine Wohl,
um den Untergang der höchsten Güter des irdischen Daseins erstickte die Pietät
gegen den verstorbenen Genius, dessen träumerische Schwermut!) in diesem Stru¬
del der Zeilen nicht Gehör finden konnte. Hundert Zuhörer fanden sich zu der
ernsten und schwermnthsvollen Feier ein. Der Winter verging in ziemlich düsterer
Weise. In den Gesellschaften herrschte das politische Gespräch vor; die Zahl
der Concerte war viel geringer, als früher; nur die Shmphvnieconccrte hielten
sich in ihrem frühem Glanz. Aber die Zeit übte ihre Rechte. Der Mangel an
politischem Ernst, der Widerwille an der Leidenschaftlichkeit der politischen De¬
batten, die Zerstreuungssucht der Zeit gaben im Lauf des vorigen Jahres der
Musik von Neuem die Stellung, von der sie für kurze Zeit verdrängt war. In
den Gesellschaften begann das musikalische Leben in einem Uebermaß sich zu regen,
nur den Virtuosenconcerten, die schon aus innern musikalischen Gründen vor dem
März 1848 dem Untergänge nahe waren, gelang es nicht, sich von dem Sturz
wieder zu erheben; dafür war aber andererseits eine neue Schöpfung entstanden,
die sich an die politischen Zustände selbst anlehnte und, was ihr an Intensität
fehlte, dnrch Extensität nachzuholen suchte. ES sind dies die sogenannten Bezirks-
concerte, in deren Kategorie auch die Treubuudöconccrte und ähnliche zu rechnen
sind. Man nimmt nicht zu viel an, wenn man die Zahl derer, die in dem Zeit¬
raum von Ostern 1849 bis Ostern 1850 stattgefunden haben, auf 5--600 fixirt.
Es findet selten ein solches Concert statt, in dein nicht eine oder die andere be¬
deutende musikalische Leistung zu hören wäre; und namentlich der Umstand, daß
Solovorträge im Gebiet der Instrumentalmusik häufig in ihnen vorkommen, legt
der Wiederbelebung der Virtuosenconcerte ein schwer zu überwindendes Hindernis;
in den Weg. Das Publicum der Bezirköconcerte besteht seinem Kern nach aus
der ärmern Mittelclasse; es breitet sich somit über ganz Berlin ein Reh von mu¬
sikalischen Zerstreuungen aus, das Bierfiedlerthum und der Harfenistcngesang haben
ihr Terrain verloren; der Bourgeois fühlt sich hoch erhaben über diese Stufen
der Künstlerschaft. Fünf Silbergroschen, und er hört den Sirenengesang einer
penstvnirten Sängerin, die früher ersten oder doch zweiten Ranges war, er hört
bedeutende Dilettanten, er hört die glänzenden Leistungen von Mitgliedern der
Capelle, ja, wenn das Glück gut ist, auch wohl einen Opernsäuger selbst; junge
Talente legen vor ihm die erste" Proben ihrer Fertigkeiten ab -- sein patriotisches
Herz schwillt hoch; es geht nichts über das Glück, ein Berliner Bürger zu sein.
Nur etwas Langeweile muß man mit in den Kauf nehmen. Der Bourgeois kommt


Taubert die Leitung des Concerts übernommen; die Ouvertüre zur Athalia, Chöre
aus Oedipus Cvloncus, ein Psalm und die Walpurgisnacht machten den Inhalt
des Programms aus. Aber der Kampf zwischen dem Ministerium Brandenburg
und der Nationalversammlung hatte so eben begonnen; uoch war die Vertagung
und Dislocirnug der constituirenden Nersaminlnug nicht ausgesprochen, doch fühlte
ein Jeder die verhängnißvolle Katastrophe; die Sorge um das allgemeine Wohl,
um den Untergang der höchsten Güter des irdischen Daseins erstickte die Pietät
gegen den verstorbenen Genius, dessen träumerische Schwermut!) in diesem Stru¬
del der Zeilen nicht Gehör finden konnte. Hundert Zuhörer fanden sich zu der
ernsten und schwermnthsvollen Feier ein. Der Winter verging in ziemlich düsterer
Weise. In den Gesellschaften herrschte das politische Gespräch vor; die Zahl
der Concerte war viel geringer, als früher; nur die Shmphvnieconccrte hielten
sich in ihrem frühem Glanz. Aber die Zeit übte ihre Rechte. Der Mangel an
politischem Ernst, der Widerwille an der Leidenschaftlichkeit der politischen De¬
batten, die Zerstreuungssucht der Zeit gaben im Lauf des vorigen Jahres der
Musik von Neuem die Stellung, von der sie für kurze Zeit verdrängt war. In
den Gesellschaften begann das musikalische Leben in einem Uebermaß sich zu regen,
nur den Virtuosenconcerten, die schon aus innern musikalischen Gründen vor dem
März 1848 dem Untergänge nahe waren, gelang es nicht, sich von dem Sturz
wieder zu erheben; dafür war aber andererseits eine neue Schöpfung entstanden,
die sich an die politischen Zustände selbst anlehnte und, was ihr an Intensität
fehlte, dnrch Extensität nachzuholen suchte. ES sind dies die sogenannten Bezirks-
concerte, in deren Kategorie auch die Treubuudöconccrte und ähnliche zu rechnen
sind. Man nimmt nicht zu viel an, wenn man die Zahl derer, die in dem Zeit¬
raum von Ostern 1849 bis Ostern 1850 stattgefunden haben, auf 5—600 fixirt.
Es findet selten ein solches Concert statt, in dein nicht eine oder die andere be¬
deutende musikalische Leistung zu hören wäre; und namentlich der Umstand, daß
Solovorträge im Gebiet der Instrumentalmusik häufig in ihnen vorkommen, legt
der Wiederbelebung der Virtuosenconcerte ein schwer zu überwindendes Hindernis;
in den Weg. Das Publicum der Bezirköconcerte besteht seinem Kern nach aus
der ärmern Mittelclasse; es breitet sich somit über ganz Berlin ein Reh von mu¬
sikalischen Zerstreuungen aus, das Bierfiedlerthum und der Harfenistcngesang haben
ihr Terrain verloren; der Bourgeois fühlt sich hoch erhaben über diese Stufen
der Künstlerschaft. Fünf Silbergroschen, und er hört den Sirenengesang einer
penstvnirten Sängerin, die früher ersten oder doch zweiten Ranges war, er hört
bedeutende Dilettanten, er hört die glänzenden Leistungen von Mitgliedern der
Capelle, ja, wenn das Glück gut ist, auch wohl einen Opernsäuger selbst; junge
Talente legen vor ihm die erste» Proben ihrer Fertigkeiten ab — sein patriotisches
Herz schwillt hoch; es geht nichts über das Glück, ein Berliner Bürger zu sein.
Nur etwas Langeweile muß man mit in den Kauf nehmen. Der Bourgeois kommt


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0304" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/85887"/>
          <p xml:id="ID_1050" prev="#ID_1049" next="#ID_1051"> Taubert die Leitung des Concerts übernommen; die Ouvertüre zur Athalia, Chöre<lb/>
aus Oedipus Cvloncus, ein Psalm und die Walpurgisnacht machten den Inhalt<lb/>
des Programms aus. Aber der Kampf zwischen dem Ministerium Brandenburg<lb/>
und der Nationalversammlung hatte so eben begonnen; uoch war die Vertagung<lb/>
und Dislocirnug der constituirenden Nersaminlnug nicht ausgesprochen, doch fühlte<lb/>
ein Jeder die verhängnißvolle Katastrophe; die Sorge um das allgemeine Wohl,<lb/>
um den Untergang der höchsten Güter des irdischen Daseins erstickte die Pietät<lb/>
gegen den verstorbenen Genius, dessen träumerische Schwermut!) in diesem Stru¬<lb/>
del der Zeilen nicht Gehör finden konnte. Hundert Zuhörer fanden sich zu der<lb/>
ernsten und schwermnthsvollen Feier ein. Der Winter verging in ziemlich düsterer<lb/>
Weise. In den Gesellschaften herrschte das politische Gespräch vor; die Zahl<lb/>
der Concerte war viel geringer, als früher; nur die Shmphvnieconccrte hielten<lb/>
sich in ihrem frühem Glanz. Aber die Zeit übte ihre Rechte. Der Mangel an<lb/>
politischem Ernst, der Widerwille an der Leidenschaftlichkeit der politischen De¬<lb/>
batten, die Zerstreuungssucht der Zeit gaben im Lauf des vorigen Jahres der<lb/>
Musik von Neuem die Stellung, von der sie für kurze Zeit verdrängt war. In<lb/>
den Gesellschaften begann das musikalische Leben in einem Uebermaß sich zu regen,<lb/>
nur den Virtuosenconcerten, die schon aus innern musikalischen Gründen vor dem<lb/>
März 1848 dem Untergänge nahe waren, gelang es nicht, sich von dem Sturz<lb/>
wieder zu erheben; dafür war aber andererseits eine neue Schöpfung entstanden,<lb/>
die sich an die politischen Zustände selbst anlehnte und, was ihr an Intensität<lb/>
fehlte, dnrch Extensität nachzuholen suchte. ES sind dies die sogenannten Bezirks-<lb/>
concerte, in deren Kategorie auch die Treubuudöconccrte und ähnliche zu rechnen<lb/>
sind. Man nimmt nicht zu viel an, wenn man die Zahl derer, die in dem Zeit¬<lb/>
raum von Ostern 1849 bis Ostern 1850 stattgefunden haben, auf 5&#x2014;600 fixirt.<lb/>
Es findet selten ein solches Concert statt, in dein nicht eine oder die andere be¬<lb/>
deutende musikalische Leistung zu hören wäre; und namentlich der Umstand, daß<lb/>
Solovorträge im Gebiet der Instrumentalmusik häufig in ihnen vorkommen, legt<lb/>
der Wiederbelebung der Virtuosenconcerte ein schwer zu überwindendes Hindernis;<lb/>
in den Weg. Das Publicum der Bezirköconcerte besteht seinem Kern nach aus<lb/>
der ärmern Mittelclasse; es breitet sich somit über ganz Berlin ein Reh von mu¬<lb/>
sikalischen Zerstreuungen aus, das Bierfiedlerthum und der Harfenistcngesang haben<lb/>
ihr Terrain verloren; der Bourgeois fühlt sich hoch erhaben über diese Stufen<lb/>
der Künstlerschaft. Fünf Silbergroschen, und er hört den Sirenengesang einer<lb/>
penstvnirten Sängerin, die früher ersten oder doch zweiten Ranges war, er hört<lb/>
bedeutende Dilettanten, er hört die glänzenden Leistungen von Mitgliedern der<lb/>
Capelle, ja, wenn das Glück gut ist, auch wohl einen Opernsäuger selbst; junge<lb/>
Talente legen vor ihm die erste» Proben ihrer Fertigkeiten ab &#x2014; sein patriotisches<lb/>
Herz schwillt hoch; es geht nichts über das Glück, ein Berliner Bürger zu sein.<lb/>
Nur etwas Langeweile muß man mit in den Kauf nehmen. Der Bourgeois kommt</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0304] Taubert die Leitung des Concerts übernommen; die Ouvertüre zur Athalia, Chöre aus Oedipus Cvloncus, ein Psalm und die Walpurgisnacht machten den Inhalt des Programms aus. Aber der Kampf zwischen dem Ministerium Brandenburg und der Nationalversammlung hatte so eben begonnen; uoch war die Vertagung und Dislocirnug der constituirenden Nersaminlnug nicht ausgesprochen, doch fühlte ein Jeder die verhängnißvolle Katastrophe; die Sorge um das allgemeine Wohl, um den Untergang der höchsten Güter des irdischen Daseins erstickte die Pietät gegen den verstorbenen Genius, dessen träumerische Schwermut!) in diesem Stru¬ del der Zeilen nicht Gehör finden konnte. Hundert Zuhörer fanden sich zu der ernsten und schwermnthsvollen Feier ein. Der Winter verging in ziemlich düsterer Weise. In den Gesellschaften herrschte das politische Gespräch vor; die Zahl der Concerte war viel geringer, als früher; nur die Shmphvnieconccrte hielten sich in ihrem frühem Glanz. Aber die Zeit übte ihre Rechte. Der Mangel an politischem Ernst, der Widerwille an der Leidenschaftlichkeit der politischen De¬ batten, die Zerstreuungssucht der Zeit gaben im Lauf des vorigen Jahres der Musik von Neuem die Stellung, von der sie für kurze Zeit verdrängt war. In den Gesellschaften begann das musikalische Leben in einem Uebermaß sich zu regen, nur den Virtuosenconcerten, die schon aus innern musikalischen Gründen vor dem März 1848 dem Untergänge nahe waren, gelang es nicht, sich von dem Sturz wieder zu erheben; dafür war aber andererseits eine neue Schöpfung entstanden, die sich an die politischen Zustände selbst anlehnte und, was ihr an Intensität fehlte, dnrch Extensität nachzuholen suchte. ES sind dies die sogenannten Bezirks- concerte, in deren Kategorie auch die Treubuudöconccrte und ähnliche zu rechnen sind. Man nimmt nicht zu viel an, wenn man die Zahl derer, die in dem Zeit¬ raum von Ostern 1849 bis Ostern 1850 stattgefunden haben, auf 5—600 fixirt. Es findet selten ein solches Concert statt, in dein nicht eine oder die andere be¬ deutende musikalische Leistung zu hören wäre; und namentlich der Umstand, daß Solovorträge im Gebiet der Instrumentalmusik häufig in ihnen vorkommen, legt der Wiederbelebung der Virtuosenconcerte ein schwer zu überwindendes Hindernis; in den Weg. Das Publicum der Bezirköconcerte besteht seinem Kern nach aus der ärmern Mittelclasse; es breitet sich somit über ganz Berlin ein Reh von mu¬ sikalischen Zerstreuungen aus, das Bierfiedlerthum und der Harfenistcngesang haben ihr Terrain verloren; der Bourgeois fühlt sich hoch erhaben über diese Stufen der Künstlerschaft. Fünf Silbergroschen, und er hört den Sirenengesang einer penstvnirten Sängerin, die früher ersten oder doch zweiten Ranges war, er hört bedeutende Dilettanten, er hört die glänzenden Leistungen von Mitgliedern der Capelle, ja, wenn das Glück gut ist, auch wohl einen Opernsäuger selbst; junge Talente legen vor ihm die erste» Proben ihrer Fertigkeiten ab — sein patriotisches Herz schwillt hoch; es geht nichts über das Glück, ein Berliner Bürger zu sein. Nur etwas Langeweile muß man mit in den Kauf nehmen. Der Bourgeois kommt

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341568_85583
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341568_85583/304
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 9, 1850, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341568_85583/304>, abgerufen am 27.07.2024.