Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 9, 1850, II. Semester. I. Band.

Bild:
<< vorherige Seite

Geographie, die ersten Anfangsgründe der Naturwissenschaft, die Regeln der
Landwirthschaft. Einige auf der Herrschaft ansäßige deutsche Handwerker lehren
Wolle weben, den Gebrauch der Stellmacherwerkzeuge und einiges Untere; und
die beiden Frauen geben den Mädchen Unterricht in weiblichen Arbeiten, auch im
Leinweber. Lehrer und Lehrerinnen werden vom Grafen ziemlich gut besoldet,
haben gute Wohnungen und einige Acker Landes zur Bemchnug. Zur Schulan¬
stalt gehören ein Gemüse- und Baumgarten, in welchem ich ein Mal bei meiner
Durchreise vierzig kleine barfüßige Knaben damit beschäftigt sah, das Beschneiden,
Pflanzen, Okuliren und Pfropfen zu lernen. Diese Schule ist eine Musteranstalt
und würde auch in Deutschland dafür gelten. Zu erwähnen ist, daß vielleicht
mehr noch dem Commissär der Grundherrschast, einem Deutschen, Namens Böttiger,
der Ruhm gebührt, diese schöne Anstalt ins Leben gebracht zu haben.

Minder stattlich ist die Bauernschule ans der Herrschaft des Herrn v. Lipsti,
welche sogar von Erwachsenen besucht werden muß. Bis zum zwanzigsten Jahre
ist jeder Bauer und jede Bäuerin verpflichtet, Unterricht zu genießen. Den Kin¬
dern sind die Tagesstunden, den Erwachsenen die Abendstunden im Winter ge¬
widmet. Von einem bestimmten Lebensabschnitte, vom fünften oder sechsten
Jahre bis zur Konfirmation, der in Deutschland dem Schulgenuß ausschließlich
gewidmet ist, ist in Rußland durchaus die Rede uicht. ES gibt überhaupt keine
Verordnung, in welcher der erste Genuß des heiligen Abendmahls auf ein gewisses
Lebensjahr bestimmt und dadurch auch für deu Schulgcuuß ein geeigneter Abschnitt
gebildet würde. Ich habe Kinder von sechs und stehen Jahren das heilige Abend¬
mahl genießen sehen. Beim Bauernstande ist es eine Art Regel geworden, das
Kind zum ersten Male zur Beichte und Communion zu schicken, sobald es das
Vaterunser und die wichtigsten kirchlichen Gebete völlig auswendig kann. Es mag
dies nun im achten oder zehnten Lebensjahre sein, darauf kommt nichts an. Nur
zu spät wird es nicht sein dürfen, weil sonst der Geistliche um einige Einkünfte
käme. Daher wird auch in den Städten die Schule nicht als eine Vorbereitung
für den großen Bund der Christen und für das staatsbürgerliche Leben betrachtet.
Man ist noch uicht an deu Gedanken gewöhnt, daß dnrch sie die Fähigkeit und
das Recht zu einem größeren Lebenscursns gewonnen werde. Dieser Gedanke
wird nur in den Handwerksschulen sichtbar, welche dnrch die Gewerksinnuugen
da, wo welche bestehen, mit Genehmigung der Regierung gestiftet wordeu sind.
Diese Gewerksinnuugeu sind aber wieder eigentlich weder russische uoch polnische,
sondern deutsche Corporationen. Dort siud die Handwerkslehrlinge ohne Unter¬
schied zum Besuch der Juuungsschule gezwungen und können nicht eher Gesellen
werden, als sie sich ein Fähigkeitszengniß in Betreff ihrer Schulkenntnisse erwor¬
ben haben. In diesen Jnnungsschulen wird aber nichts weiter gelehrt als Lesen,
Schreiben und Rechnen, da die jungen Leute, welche in die Werkstätte aufgenom¬
men werden, davou noch nichts wissen.


Geographie, die ersten Anfangsgründe der Naturwissenschaft, die Regeln der
Landwirthschaft. Einige auf der Herrschaft ansäßige deutsche Handwerker lehren
Wolle weben, den Gebrauch der Stellmacherwerkzeuge und einiges Untere; und
die beiden Frauen geben den Mädchen Unterricht in weiblichen Arbeiten, auch im
Leinweber. Lehrer und Lehrerinnen werden vom Grafen ziemlich gut besoldet,
haben gute Wohnungen und einige Acker Landes zur Bemchnug. Zur Schulan¬
stalt gehören ein Gemüse- und Baumgarten, in welchem ich ein Mal bei meiner
Durchreise vierzig kleine barfüßige Knaben damit beschäftigt sah, das Beschneiden,
Pflanzen, Okuliren und Pfropfen zu lernen. Diese Schule ist eine Musteranstalt
und würde auch in Deutschland dafür gelten. Zu erwähnen ist, daß vielleicht
mehr noch dem Commissär der Grundherrschast, einem Deutschen, Namens Böttiger,
der Ruhm gebührt, diese schöne Anstalt ins Leben gebracht zu haben.

Minder stattlich ist die Bauernschule ans der Herrschaft des Herrn v. Lipsti,
welche sogar von Erwachsenen besucht werden muß. Bis zum zwanzigsten Jahre
ist jeder Bauer und jede Bäuerin verpflichtet, Unterricht zu genießen. Den Kin¬
dern sind die Tagesstunden, den Erwachsenen die Abendstunden im Winter ge¬
widmet. Von einem bestimmten Lebensabschnitte, vom fünften oder sechsten
Jahre bis zur Konfirmation, der in Deutschland dem Schulgenuß ausschließlich
gewidmet ist, ist in Rußland durchaus die Rede uicht. ES gibt überhaupt keine
Verordnung, in welcher der erste Genuß des heiligen Abendmahls auf ein gewisses
Lebensjahr bestimmt und dadurch auch für deu Schulgcuuß ein geeigneter Abschnitt
gebildet würde. Ich habe Kinder von sechs und stehen Jahren das heilige Abend¬
mahl genießen sehen. Beim Bauernstande ist es eine Art Regel geworden, das
Kind zum ersten Male zur Beichte und Communion zu schicken, sobald es das
Vaterunser und die wichtigsten kirchlichen Gebete völlig auswendig kann. Es mag
dies nun im achten oder zehnten Lebensjahre sein, darauf kommt nichts an. Nur
zu spät wird es nicht sein dürfen, weil sonst der Geistliche um einige Einkünfte
käme. Daher wird auch in den Städten die Schule nicht als eine Vorbereitung
für den großen Bund der Christen und für das staatsbürgerliche Leben betrachtet.
Man ist noch uicht an deu Gedanken gewöhnt, daß dnrch sie die Fähigkeit und
das Recht zu einem größeren Lebenscursns gewonnen werde. Dieser Gedanke
wird nur in den Handwerksschulen sichtbar, welche dnrch die Gewerksinnuugen
da, wo welche bestehen, mit Genehmigung der Regierung gestiftet wordeu sind.
Diese Gewerksinnuugeu sind aber wieder eigentlich weder russische uoch polnische,
sondern deutsche Corporationen. Dort siud die Handwerkslehrlinge ohne Unter¬
schied zum Besuch der Juuungsschule gezwungen und können nicht eher Gesellen
werden, als sie sich ein Fähigkeitszengniß in Betreff ihrer Schulkenntnisse erwor¬
ben haben. In diesen Jnnungsschulen wird aber nichts weiter gelehrt als Lesen,
Schreiben und Rechnen, da die jungen Leute, welche in die Werkstätte aufgenom¬
men werden, davou noch nichts wissen.


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0156" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/85739"/>
          <p xml:id="ID_536" prev="#ID_535"> Geographie, die ersten Anfangsgründe der Naturwissenschaft, die Regeln der<lb/>
Landwirthschaft. Einige auf der Herrschaft ansäßige deutsche Handwerker lehren<lb/>
Wolle weben, den Gebrauch der Stellmacherwerkzeuge und einiges Untere; und<lb/>
die beiden Frauen geben den Mädchen Unterricht in weiblichen Arbeiten, auch im<lb/>
Leinweber. Lehrer und Lehrerinnen werden vom Grafen ziemlich gut besoldet,<lb/>
haben gute Wohnungen und einige Acker Landes zur Bemchnug. Zur Schulan¬<lb/>
stalt gehören ein Gemüse- und Baumgarten, in welchem ich ein Mal bei meiner<lb/>
Durchreise vierzig kleine barfüßige Knaben damit beschäftigt sah, das Beschneiden,<lb/>
Pflanzen, Okuliren und Pfropfen zu lernen. Diese Schule ist eine Musteranstalt<lb/>
und würde auch in Deutschland dafür gelten. Zu erwähnen ist, daß vielleicht<lb/>
mehr noch dem Commissär der Grundherrschast, einem Deutschen, Namens Böttiger,<lb/>
der Ruhm gebührt, diese schöne Anstalt ins Leben gebracht zu haben.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_537"> Minder stattlich ist die Bauernschule ans der Herrschaft des Herrn v. Lipsti,<lb/>
welche sogar von Erwachsenen besucht werden muß. Bis zum zwanzigsten Jahre<lb/>
ist jeder Bauer und jede Bäuerin verpflichtet, Unterricht zu genießen. Den Kin¬<lb/>
dern sind die Tagesstunden, den Erwachsenen die Abendstunden im Winter ge¬<lb/>
widmet. Von einem bestimmten Lebensabschnitte, vom fünften oder sechsten<lb/>
Jahre bis zur Konfirmation, der in Deutschland dem Schulgenuß ausschließlich<lb/>
gewidmet ist, ist in Rußland durchaus die Rede uicht. ES gibt überhaupt keine<lb/>
Verordnung, in welcher der erste Genuß des heiligen Abendmahls auf ein gewisses<lb/>
Lebensjahr bestimmt und dadurch auch für deu Schulgcuuß ein geeigneter Abschnitt<lb/>
gebildet würde. Ich habe Kinder von sechs und stehen Jahren das heilige Abend¬<lb/>
mahl genießen sehen. Beim Bauernstande ist es eine Art Regel geworden, das<lb/>
Kind zum ersten Male zur Beichte und Communion zu schicken, sobald es das<lb/>
Vaterunser und die wichtigsten kirchlichen Gebete völlig auswendig kann. Es mag<lb/>
dies nun im achten oder zehnten Lebensjahre sein, darauf kommt nichts an. Nur<lb/>
zu spät wird es nicht sein dürfen, weil sonst der Geistliche um einige Einkünfte<lb/>
käme. Daher wird auch in den Städten die Schule nicht als eine Vorbereitung<lb/>
für den großen Bund der Christen und für das staatsbürgerliche Leben betrachtet.<lb/>
Man ist noch uicht an deu Gedanken gewöhnt, daß dnrch sie die Fähigkeit und<lb/>
das Recht zu einem größeren Lebenscursns gewonnen werde. Dieser Gedanke<lb/>
wird nur in den Handwerksschulen sichtbar, welche dnrch die Gewerksinnuugen<lb/>
da, wo welche bestehen, mit Genehmigung der Regierung gestiftet wordeu sind.<lb/>
Diese Gewerksinnuugeu sind aber wieder eigentlich weder russische uoch polnische,<lb/>
sondern deutsche Corporationen. Dort siud die Handwerkslehrlinge ohne Unter¬<lb/>
schied zum Besuch der Juuungsschule gezwungen und können nicht eher Gesellen<lb/>
werden, als sie sich ein Fähigkeitszengniß in Betreff ihrer Schulkenntnisse erwor¬<lb/>
ben haben. In diesen Jnnungsschulen wird aber nichts weiter gelehrt als Lesen,<lb/>
Schreiben und Rechnen, da die jungen Leute, welche in die Werkstätte aufgenom¬<lb/>
men werden, davou noch nichts wissen.</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0156] Geographie, die ersten Anfangsgründe der Naturwissenschaft, die Regeln der Landwirthschaft. Einige auf der Herrschaft ansäßige deutsche Handwerker lehren Wolle weben, den Gebrauch der Stellmacherwerkzeuge und einiges Untere; und die beiden Frauen geben den Mädchen Unterricht in weiblichen Arbeiten, auch im Leinweber. Lehrer und Lehrerinnen werden vom Grafen ziemlich gut besoldet, haben gute Wohnungen und einige Acker Landes zur Bemchnug. Zur Schulan¬ stalt gehören ein Gemüse- und Baumgarten, in welchem ich ein Mal bei meiner Durchreise vierzig kleine barfüßige Knaben damit beschäftigt sah, das Beschneiden, Pflanzen, Okuliren und Pfropfen zu lernen. Diese Schule ist eine Musteranstalt und würde auch in Deutschland dafür gelten. Zu erwähnen ist, daß vielleicht mehr noch dem Commissär der Grundherrschast, einem Deutschen, Namens Böttiger, der Ruhm gebührt, diese schöne Anstalt ins Leben gebracht zu haben. Minder stattlich ist die Bauernschule ans der Herrschaft des Herrn v. Lipsti, welche sogar von Erwachsenen besucht werden muß. Bis zum zwanzigsten Jahre ist jeder Bauer und jede Bäuerin verpflichtet, Unterricht zu genießen. Den Kin¬ dern sind die Tagesstunden, den Erwachsenen die Abendstunden im Winter ge¬ widmet. Von einem bestimmten Lebensabschnitte, vom fünften oder sechsten Jahre bis zur Konfirmation, der in Deutschland dem Schulgenuß ausschließlich gewidmet ist, ist in Rußland durchaus die Rede uicht. ES gibt überhaupt keine Verordnung, in welcher der erste Genuß des heiligen Abendmahls auf ein gewisses Lebensjahr bestimmt und dadurch auch für deu Schulgcuuß ein geeigneter Abschnitt gebildet würde. Ich habe Kinder von sechs und stehen Jahren das heilige Abend¬ mahl genießen sehen. Beim Bauernstande ist es eine Art Regel geworden, das Kind zum ersten Male zur Beichte und Communion zu schicken, sobald es das Vaterunser und die wichtigsten kirchlichen Gebete völlig auswendig kann. Es mag dies nun im achten oder zehnten Lebensjahre sein, darauf kommt nichts an. Nur zu spät wird es nicht sein dürfen, weil sonst der Geistliche um einige Einkünfte käme. Daher wird auch in den Städten die Schule nicht als eine Vorbereitung für den großen Bund der Christen und für das staatsbürgerliche Leben betrachtet. Man ist noch uicht an deu Gedanken gewöhnt, daß dnrch sie die Fähigkeit und das Recht zu einem größeren Lebenscursns gewonnen werde. Dieser Gedanke wird nur in den Handwerksschulen sichtbar, welche dnrch die Gewerksinnuugen da, wo welche bestehen, mit Genehmigung der Regierung gestiftet wordeu sind. Diese Gewerksinnuugeu sind aber wieder eigentlich weder russische uoch polnische, sondern deutsche Corporationen. Dort siud die Handwerkslehrlinge ohne Unter¬ schied zum Besuch der Juuungsschule gezwungen und können nicht eher Gesellen werden, als sie sich ein Fähigkeitszengniß in Betreff ihrer Schulkenntnisse erwor¬ ben haben. In diesen Jnnungsschulen wird aber nichts weiter gelehrt als Lesen, Schreiben und Rechnen, da die jungen Leute, welche in die Werkstätte aufgenom¬ men werden, davou noch nichts wissen.

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341568_85583
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341568_85583/156
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 9, 1850, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341568_85583/156>, abgerufen am 06.10.2024.