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Die Grenzboten. Jg. 9, 1850, II. Semester. I. Band.

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man nennt die Städte, in welchen die Anstalten errichtet worden sind, man be¬
schreibt ihre vortrefflichen Bibliotheken, die alle ans der kaiserlichen Bibliothek zu
Petersburg stamme", man zählt ganze Reihen von Dotationen aus kaiserlicher
Gnade auf, beschreibt die Kommissionen, welche wegen der naturwissenschaftlichen
Museen dieser Anstalten an die entferntesten Enden der Erde gesendet worden
sind und -- wollte sich einer die Mühe machen, nach Nußland zu reisen und die
Sache zu untersuchen, so würde er zu seiner Verwunderung finden, daß daran
sehr, sehr wenig wahr ist.

In' den Ostseeprovinzen soll der Grundherr eine Schulanstalt auf seiner
Besitzung haben, er soll aber auch die Erhaltungsmittel hergeben und den Lehrer
wählen und berufen, ja selbst die Lehrgegenstände anordnen und die Lehrweise
überwachen. Nur das Eine ist Vorschrift, daß in der Sprache der Bauern ge¬
lehrt werde. Welche Opfer sollen aber die Grundherrn geneigt sein, einem
Werke zu bringen, welches ihnen nicht gerade angenehm ist? In K. bei Valk
hat der Grundherr die Subststeuzmittel des Lehrers auf zwanzig Rubel, zwei
Scheffel Korn, vier Scheffel Kartoffeln und ein Viertel Buchweizen festgesetzt.
Es hat sich nun seit sechs Jahren für seine Schule kein Lehrer herbeischaffen
lassen und das war dem Wunsche des Grundherrn und vielleicht der Negierung ent¬
sprechend. Der hier angegebene Fall kam öffentlich zur Sprache und von einigen
Lehrern aus Oesel würde er sogar in einer Beschwerdeschrift der Negierung mit-
getheilt. Sie hat die Schrift gar nicht beantwortet.

Welche Wahl die Grundherrn am liebsten treffen, ist aus dem Gesagten sehr
erklärlich. Nach den Kenntnissen fragen sie in den meisten Fällen nicht; im Ge-
gentheil sind vielen die dümmsten Lehrer die liebsten, es wäre denn, daß sie die¬
selben für ihre eigenen Kinder gebrauchen wollten. Kenntnisse in der Landwirth-
schaft und dem Waidwerk sind ihnen vom Lehrer lieber als wissenschaftliche Bildung.
In Selm mußte der Lehrer den Verwalter spielen, und in einem Dorfe des
Herrn v. Dieskau war er mehr Jäger als der Schullehrer. Als Lehrer hatte er
vierzig Rubel nud als Jäger bekam er eine Zulage von fünfzehn Rubeln und
die Kost. Er rühmte sich, im ganzen Jahre nur neun Mal Schule gehalten, da¬
gegen, ich'weiß nicht, wie viele Hasen und Nebhühner geschossen, auch für den
gnädigen Herrn einige hundert Ellen Fischnetze gestrickt zu haben. ,.

Die Grundherren würden augenblicklich ein anderes Verhalten beobachten,
sobald sich die Regierung den Volksftl nten ernstlich geneigt zeigte, denn sie sind
sämmtlich ebenso servil als bemittelt und klug. Die besten und begünstigtsten Schulen
können sich immer noch nicht der schlechtesten deutschen Dorfschule an die Seite
stellen. Während die schlechtesten des Landes nur vor wichtigen Festtagen ge¬
öffnet sind, ^ damit die Kinder die Bedeutung des Festes kennen und die Gesang-
buchölicder auswendig lernen -- in so fern werden die Herren Pastoren einiger¬
maßen zufriedengestellt -- sind die besten doch wenigstens den Winter hindurch


man nennt die Städte, in welchen die Anstalten errichtet worden sind, man be¬
schreibt ihre vortrefflichen Bibliotheken, die alle ans der kaiserlichen Bibliothek zu
Petersburg stamme», man zählt ganze Reihen von Dotationen aus kaiserlicher
Gnade auf, beschreibt die Kommissionen, welche wegen der naturwissenschaftlichen
Museen dieser Anstalten an die entferntesten Enden der Erde gesendet worden
sind und — wollte sich einer die Mühe machen, nach Nußland zu reisen und die
Sache zu untersuchen, so würde er zu seiner Verwunderung finden, daß daran
sehr, sehr wenig wahr ist.

In' den Ostseeprovinzen soll der Grundherr eine Schulanstalt auf seiner
Besitzung haben, er soll aber auch die Erhaltungsmittel hergeben und den Lehrer
wählen und berufen, ja selbst die Lehrgegenstände anordnen und die Lehrweise
überwachen. Nur das Eine ist Vorschrift, daß in der Sprache der Bauern ge¬
lehrt werde. Welche Opfer sollen aber die Grundherrn geneigt sein, einem
Werke zu bringen, welches ihnen nicht gerade angenehm ist? In K. bei Valk
hat der Grundherr die Subststeuzmittel des Lehrers auf zwanzig Rubel, zwei
Scheffel Korn, vier Scheffel Kartoffeln und ein Viertel Buchweizen festgesetzt.
Es hat sich nun seit sechs Jahren für seine Schule kein Lehrer herbeischaffen
lassen und das war dem Wunsche des Grundherrn und vielleicht der Negierung ent¬
sprechend. Der hier angegebene Fall kam öffentlich zur Sprache und von einigen
Lehrern aus Oesel würde er sogar in einer Beschwerdeschrift der Negierung mit-
getheilt. Sie hat die Schrift gar nicht beantwortet.

Welche Wahl die Grundherrn am liebsten treffen, ist aus dem Gesagten sehr
erklärlich. Nach den Kenntnissen fragen sie in den meisten Fällen nicht; im Ge-
gentheil sind vielen die dümmsten Lehrer die liebsten, es wäre denn, daß sie die¬
selben für ihre eigenen Kinder gebrauchen wollten. Kenntnisse in der Landwirth-
schaft und dem Waidwerk sind ihnen vom Lehrer lieber als wissenschaftliche Bildung.
In Selm mußte der Lehrer den Verwalter spielen, und in einem Dorfe des
Herrn v. Dieskau war er mehr Jäger als der Schullehrer. Als Lehrer hatte er
vierzig Rubel nud als Jäger bekam er eine Zulage von fünfzehn Rubeln und
die Kost. Er rühmte sich, im ganzen Jahre nur neun Mal Schule gehalten, da¬
gegen, ich'weiß nicht, wie viele Hasen und Nebhühner geschossen, auch für den
gnädigen Herrn einige hundert Ellen Fischnetze gestrickt zu haben. ,.

Die Grundherren würden augenblicklich ein anderes Verhalten beobachten,
sobald sich die Regierung den Volksftl nten ernstlich geneigt zeigte, denn sie sind
sämmtlich ebenso servil als bemittelt und klug. Die besten und begünstigtsten Schulen
können sich immer noch nicht der schlechtesten deutschen Dorfschule an die Seite
stellen. Während die schlechtesten des Landes nur vor wichtigen Festtagen ge¬
öffnet sind, ^ damit die Kinder die Bedeutung des Festes kennen und die Gesang-
buchölicder auswendig lernen — in so fern werden die Herren Pastoren einiger¬
maßen zufriedengestellt — sind die besten doch wenigstens den Winter hindurch


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[0154] man nennt die Städte, in welchen die Anstalten errichtet worden sind, man be¬ schreibt ihre vortrefflichen Bibliotheken, die alle ans der kaiserlichen Bibliothek zu Petersburg stamme», man zählt ganze Reihen von Dotationen aus kaiserlicher Gnade auf, beschreibt die Kommissionen, welche wegen der naturwissenschaftlichen Museen dieser Anstalten an die entferntesten Enden der Erde gesendet worden sind und — wollte sich einer die Mühe machen, nach Nußland zu reisen und die Sache zu untersuchen, so würde er zu seiner Verwunderung finden, daß daran sehr, sehr wenig wahr ist. In' den Ostseeprovinzen soll der Grundherr eine Schulanstalt auf seiner Besitzung haben, er soll aber auch die Erhaltungsmittel hergeben und den Lehrer wählen und berufen, ja selbst die Lehrgegenstände anordnen und die Lehrweise überwachen. Nur das Eine ist Vorschrift, daß in der Sprache der Bauern ge¬ lehrt werde. Welche Opfer sollen aber die Grundherrn geneigt sein, einem Werke zu bringen, welches ihnen nicht gerade angenehm ist? In K. bei Valk hat der Grundherr die Subststeuzmittel des Lehrers auf zwanzig Rubel, zwei Scheffel Korn, vier Scheffel Kartoffeln und ein Viertel Buchweizen festgesetzt. Es hat sich nun seit sechs Jahren für seine Schule kein Lehrer herbeischaffen lassen und das war dem Wunsche des Grundherrn und vielleicht der Negierung ent¬ sprechend. Der hier angegebene Fall kam öffentlich zur Sprache und von einigen Lehrern aus Oesel würde er sogar in einer Beschwerdeschrift der Negierung mit- getheilt. Sie hat die Schrift gar nicht beantwortet. Welche Wahl die Grundherrn am liebsten treffen, ist aus dem Gesagten sehr erklärlich. Nach den Kenntnissen fragen sie in den meisten Fällen nicht; im Ge- gentheil sind vielen die dümmsten Lehrer die liebsten, es wäre denn, daß sie die¬ selben für ihre eigenen Kinder gebrauchen wollten. Kenntnisse in der Landwirth- schaft und dem Waidwerk sind ihnen vom Lehrer lieber als wissenschaftliche Bildung. In Selm mußte der Lehrer den Verwalter spielen, und in einem Dorfe des Herrn v. Dieskau war er mehr Jäger als der Schullehrer. Als Lehrer hatte er vierzig Rubel nud als Jäger bekam er eine Zulage von fünfzehn Rubeln und die Kost. Er rühmte sich, im ganzen Jahre nur neun Mal Schule gehalten, da¬ gegen, ich'weiß nicht, wie viele Hasen und Nebhühner geschossen, auch für den gnädigen Herrn einige hundert Ellen Fischnetze gestrickt zu haben. ,. Die Grundherren würden augenblicklich ein anderes Verhalten beobachten, sobald sich die Regierung den Volksftl nten ernstlich geneigt zeigte, denn sie sind sämmtlich ebenso servil als bemittelt und klug. Die besten und begünstigtsten Schulen können sich immer noch nicht der schlechtesten deutschen Dorfschule an die Seite stellen. Während die schlechtesten des Landes nur vor wichtigen Festtagen ge¬ öffnet sind, ^ damit die Kinder die Bedeutung des Festes kennen und die Gesang- buchölicder auswendig lernen — in so fern werden die Herren Pastoren einiger¬ maßen zufriedengestellt — sind die besten doch wenigstens den Winter hindurch

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 9, 1850, II. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341568_85583/154>, abgerufen am 01.09.2024.