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Die Grenzboten. Jg. 9, 1850, I. Semester. II. Band.

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gegen das Christenthum im vorigen Jahrhundert. Durch einen gewaltsamen
Sprung riß sich damals die Aristokratie von dem Glauben des Volkes los, und
setzte seinem reichen Inhalt die leere Negation des Spottes entgegen. Zwischen
der Aufklärung und der Religion ist hier eine Kluft, über die keine Brücke führt,
und man blickt in dem unbehaglichen Gefühl der Leere sehnsüchtig nach der Warte
des Glaubens herüber, die eben ihrer Ferne wegen noch viel träumerischer, roman¬
tischer und bunter aussieht, als sie es ist, wenn man sie in den natürlichen Ver¬
hältnissen betrachtet. Mau schwärmt für den Glauben und findet doch keinen Weg
zurück. -- DaS sind die aristokratischen Sympathien für die religiöse Bewegung,
die ihrem eigentlichen Inhalt nach demokratisch ist, weil das Volk an der Auf¬
klärung keinen Antheil hatte.

Bei uns Protestanten ist eS anders. Wir haben die Vermittelung mit unserer
geschichtliche,: Entwickelung nie ausgegeben. Unsere Neuerungen waren Reformen,
keine Revolutionen. Freilich hat erst die Theologie und dann die Speculation so
lange an dein Gothischen Dom des Christenthums gezimmert, bis zuletzt etwas
ganz anderes daraus geworden ist. Wir haben unsere irdischen Angelegenheiten
in die Kirche verlegt, die früher nur dem Himmel geweiht war, aber sie ist uns
eben darum eine Heünath geblieben. Christus ist lebendig unter uns, wenn auch
geschult durch die Zeiten, in einer Metamorphose, daß ihn seine alten Jünger
nicht "lehr erkennen würden; wir haben ihn nicht einbalsamirt, in einem goldenen
Sarge aufbewahrt, bei den Todten, wie es die Römische Kirche gethan hat. Wir
können nicht schwärmen für die alte oder eine neue Religion, denn wir haben
keinen Augenblick aufgehört, religiös zu sein. Für uns ist eine Kritik, wie die
von Strauß, nicht ihrer verneinenden Richtung nach, sondern wegen ihres con-
servativen Geistes merkwürdig. Wir halten unsere ganze Geschichte fest, indem
wir ihre angeblichen Voranösetzuiigeu aufheben; wir lassen die Gewölbe, auf denen
das gewaltige Gebäude von Jahrtausenden ruht, in ihre" großen Verhältnissen
freier hervortreten, indem wir die angeblichen Stützen desselben, die aus Rohr
gemacht sind, wegschaffen. Wir haben von der Unendlichkeit nichts verloren, indem
wir sie in die Endlichkeit, von dem Geiste nichts, indem wir ihn in die Natur
auflösen; wir können sagen, so seltsam es klingt, daß wir an Gott glauben, auch
indem wir seiue (außerweltliche und außcrmeuschlichc) Existenz leugnen.




gegen das Christenthum im vorigen Jahrhundert. Durch einen gewaltsamen
Sprung riß sich damals die Aristokratie von dem Glauben des Volkes los, und
setzte seinem reichen Inhalt die leere Negation des Spottes entgegen. Zwischen
der Aufklärung und der Religion ist hier eine Kluft, über die keine Brücke führt,
und man blickt in dem unbehaglichen Gefühl der Leere sehnsüchtig nach der Warte
des Glaubens herüber, die eben ihrer Ferne wegen noch viel träumerischer, roman¬
tischer und bunter aussieht, als sie es ist, wenn man sie in den natürlichen Ver¬
hältnissen betrachtet. Mau schwärmt für den Glauben und findet doch keinen Weg
zurück. — DaS sind die aristokratischen Sympathien für die religiöse Bewegung,
die ihrem eigentlichen Inhalt nach demokratisch ist, weil das Volk an der Auf¬
klärung keinen Antheil hatte.

Bei uns Protestanten ist eS anders. Wir haben die Vermittelung mit unserer
geschichtliche,: Entwickelung nie ausgegeben. Unsere Neuerungen waren Reformen,
keine Revolutionen. Freilich hat erst die Theologie und dann die Speculation so
lange an dein Gothischen Dom des Christenthums gezimmert, bis zuletzt etwas
ganz anderes daraus geworden ist. Wir haben unsere irdischen Angelegenheiten
in die Kirche verlegt, die früher nur dem Himmel geweiht war, aber sie ist uns
eben darum eine Heünath geblieben. Christus ist lebendig unter uns, wenn auch
geschult durch die Zeiten, in einer Metamorphose, daß ihn seine alten Jünger
nicht »lehr erkennen würden; wir haben ihn nicht einbalsamirt, in einem goldenen
Sarge aufbewahrt, bei den Todten, wie es die Römische Kirche gethan hat. Wir
können nicht schwärmen für die alte oder eine neue Religion, denn wir haben
keinen Augenblick aufgehört, religiös zu sein. Für uns ist eine Kritik, wie die
von Strauß, nicht ihrer verneinenden Richtung nach, sondern wegen ihres con-
servativen Geistes merkwürdig. Wir halten unsere ganze Geschichte fest, indem
wir ihre angeblichen Voranösetzuiigeu aufheben; wir lassen die Gewölbe, auf denen
das gewaltige Gebäude von Jahrtausenden ruht, in ihre» großen Verhältnissen
freier hervortreten, indem wir die angeblichen Stützen desselben, die aus Rohr
gemacht sind, wegschaffen. Wir haben von der Unendlichkeit nichts verloren, indem
wir sie in die Endlichkeit, von dem Geiste nichts, indem wir ihn in die Natur
auflösen; wir können sagen, so seltsam es klingt, daß wir an Gott glauben, auch
indem wir seiue (außerweltliche und außcrmeuschlichc) Existenz leugnen.




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[0058] gegen das Christenthum im vorigen Jahrhundert. Durch einen gewaltsamen Sprung riß sich damals die Aristokratie von dem Glauben des Volkes los, und setzte seinem reichen Inhalt die leere Negation des Spottes entgegen. Zwischen der Aufklärung und der Religion ist hier eine Kluft, über die keine Brücke führt, und man blickt in dem unbehaglichen Gefühl der Leere sehnsüchtig nach der Warte des Glaubens herüber, die eben ihrer Ferne wegen noch viel träumerischer, roman¬ tischer und bunter aussieht, als sie es ist, wenn man sie in den natürlichen Ver¬ hältnissen betrachtet. Mau schwärmt für den Glauben und findet doch keinen Weg zurück. — DaS sind die aristokratischen Sympathien für die religiöse Bewegung, die ihrem eigentlichen Inhalt nach demokratisch ist, weil das Volk an der Auf¬ klärung keinen Antheil hatte. Bei uns Protestanten ist eS anders. Wir haben die Vermittelung mit unserer geschichtliche,: Entwickelung nie ausgegeben. Unsere Neuerungen waren Reformen, keine Revolutionen. Freilich hat erst die Theologie und dann die Speculation so lange an dein Gothischen Dom des Christenthums gezimmert, bis zuletzt etwas ganz anderes daraus geworden ist. Wir haben unsere irdischen Angelegenheiten in die Kirche verlegt, die früher nur dem Himmel geweiht war, aber sie ist uns eben darum eine Heünath geblieben. Christus ist lebendig unter uns, wenn auch geschult durch die Zeiten, in einer Metamorphose, daß ihn seine alten Jünger nicht »lehr erkennen würden; wir haben ihn nicht einbalsamirt, in einem goldenen Sarge aufbewahrt, bei den Todten, wie es die Römische Kirche gethan hat. Wir können nicht schwärmen für die alte oder eine neue Religion, denn wir haben keinen Augenblick aufgehört, religiös zu sein. Für uns ist eine Kritik, wie die von Strauß, nicht ihrer verneinenden Richtung nach, sondern wegen ihres con- servativen Geistes merkwürdig. Wir halten unsere ganze Geschichte fest, indem wir ihre angeblichen Voranösetzuiigeu aufheben; wir lassen die Gewölbe, auf denen das gewaltige Gebäude von Jahrtausenden ruht, in ihre» großen Verhältnissen freier hervortreten, indem wir die angeblichen Stützen desselben, die aus Rohr gemacht sind, wegschaffen. Wir haben von der Unendlichkeit nichts verloren, indem wir sie in die Endlichkeit, von dem Geiste nichts, indem wir ihn in die Natur auflösen; wir können sagen, so seltsam es klingt, daß wir an Gott glauben, auch indem wir seiue (außerweltliche und außcrmeuschlichc) Existenz leugnen.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 9, 1850, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341568_185336/58>, abgerufen am 03.07.2024.