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Die Grenzboten. Jg. 9, 1850, I. Semester. II. Band.

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sondern in allen Pergamenten, wie das Recht, das die Juristen der historischen
Schule verkündeten.

Es war natürlich, daß diese Visionen eines geträumten Volks dem wirklichen
Volk noch viel unverständlicher sein mußten, als die Verschrobenheiten einer über¬
feinen Bildung. Hoffmann faud noch immer Serapionsbrüder, die sich für die
tiefe, mystische Idee eines über die Grenzen der wirklichen Welk hinausragenden
Don Juan begeisterten; aber Anim wandelte in seinem mittelalterlichen Gespen¬
sterkostüm in unheimlicher Einsamkeit unter den Lebendigen herum, ein Spuk für
nervenschwache Seelen, eine Fratze für die Gesunden , die das Lachen noch uicht
verlernt hatten.

Und deren gab es noch immer genug im deutschen Volte. Im Ausland,
wo man unser Wesen ans unsern Belletristen studirte, war man fest überzeugt,
jeder Deutsche müsse entweder beim Theetisch Sonette ans Calderon, Dante und
Jacob Böhme vorlesen, oder in einer Spinnstube deu süßen Schauer einer Ge¬
spenstergeschichte empfinde"; er müsse entweder nächtlich an dem Grabe irgend einer
zu früh verstorbenen Geliebten weinen, und sich gelegentlich erschießen; oder er
müsse auf deu Dächern mit geschlossenen Augen im blassen Mondlicht umherspa¬
zieren; er müsse sich entweder in ewigen Seufzern um den lieben Herrgott und
die Jungfrau Maria in dunkeler Kanuner verzehren, oder mit titanischer Hast auf
den Trümmern von Sein, Nichtsein, Dasein, Werden, Welt, Idee u. s. w. zum
leeren Himmel emporklimmen, um dort in schwindelnder Leere mit gespenstigem,
wahnsinnigem Lachen das eigne Herz zu zerfleischen, die letzte Realität, die seine
Speculation übrig gelassen hatte.

So stellten sich die Ausländer das deutsche Volk vor. Das Bild war so
einseitig, wie die Belletristik, ans der es geschöpft war, und die eigentlich nichts
anders darstellte, als sich selber.

Es ist noch nicht lange her, daß die schöne Literatur dieser beständigen
Kreisbewegungen müde geworden ist und angefangen hat, aus sich herauszugehn,
sich mit der ihr bisher ganz fremd gebliebenen Wirklichkeit zu beschäftigen. Das
regere Leben in der Politik machte der visionären Traumwirthschaft ein Ende,
und wer sich nicht mit dem Fallen und Steigen der Course, mit der rationellen
Staatswirthschaft, der Auseinandersetzung der Gemeindegüter, dem Erbfvlgegesetz
und der deutschen Einheit beschäftigen mochte, schnallte sein Tornister und nahm
den Wanderstab in die Hand, um die von dem zersetzenden Hauch der Romantik
uoch nicht berührten Naturformen aufzusuchen, an deren ursprünglichem Leben
er die Wärme des eignen Herzens wieder anfachen konnte.

So wurde die Darstellung des Origineller, Naturwüchsigen, das Idyll, ein
wesentliches Moment der modernen Dichtung, die sich selbst -zu kennen strebte.

Das erste Gemälde, welches als eine Erholung von den bisherigen Abspan¬
nungen von dem gesammten deutschen. Lesepublikmn mit großer Freude begrüßt


sondern in allen Pergamenten, wie das Recht, das die Juristen der historischen
Schule verkündeten.

Es war natürlich, daß diese Visionen eines geträumten Volks dem wirklichen
Volk noch viel unverständlicher sein mußten, als die Verschrobenheiten einer über¬
feinen Bildung. Hoffmann faud noch immer Serapionsbrüder, die sich für die
tiefe, mystische Idee eines über die Grenzen der wirklichen Welk hinausragenden
Don Juan begeisterten; aber Anim wandelte in seinem mittelalterlichen Gespen¬
sterkostüm in unheimlicher Einsamkeit unter den Lebendigen herum, ein Spuk für
nervenschwache Seelen, eine Fratze für die Gesunden , die das Lachen noch uicht
verlernt hatten.

Und deren gab es noch immer genug im deutschen Volte. Im Ausland,
wo man unser Wesen ans unsern Belletristen studirte, war man fest überzeugt,
jeder Deutsche müsse entweder beim Theetisch Sonette ans Calderon, Dante und
Jacob Böhme vorlesen, oder in einer Spinnstube deu süßen Schauer einer Ge¬
spenstergeschichte empfinde»; er müsse entweder nächtlich an dem Grabe irgend einer
zu früh verstorbenen Geliebten weinen, und sich gelegentlich erschießen; oder er
müsse auf deu Dächern mit geschlossenen Augen im blassen Mondlicht umherspa¬
zieren; er müsse sich entweder in ewigen Seufzern um den lieben Herrgott und
die Jungfrau Maria in dunkeler Kanuner verzehren, oder mit titanischer Hast auf
den Trümmern von Sein, Nichtsein, Dasein, Werden, Welt, Idee u. s. w. zum
leeren Himmel emporklimmen, um dort in schwindelnder Leere mit gespenstigem,
wahnsinnigem Lachen das eigne Herz zu zerfleischen, die letzte Realität, die seine
Speculation übrig gelassen hatte.

So stellten sich die Ausländer das deutsche Volk vor. Das Bild war so
einseitig, wie die Belletristik, ans der es geschöpft war, und die eigentlich nichts
anders darstellte, als sich selber.

Es ist noch nicht lange her, daß die schöne Literatur dieser beständigen
Kreisbewegungen müde geworden ist und angefangen hat, aus sich herauszugehn,
sich mit der ihr bisher ganz fremd gebliebenen Wirklichkeit zu beschäftigen. Das
regere Leben in der Politik machte der visionären Traumwirthschaft ein Ende,
und wer sich nicht mit dem Fallen und Steigen der Course, mit der rationellen
Staatswirthschaft, der Auseinandersetzung der Gemeindegüter, dem Erbfvlgegesetz
und der deutschen Einheit beschäftigen mochte, schnallte sein Tornister und nahm
den Wanderstab in die Hand, um die von dem zersetzenden Hauch der Romantik
uoch nicht berührten Naturformen aufzusuchen, an deren ursprünglichem Leben
er die Wärme des eignen Herzens wieder anfachen konnte.

So wurde die Darstellung des Origineller, Naturwüchsigen, das Idyll, ein
wesentliches Moment der modernen Dichtung, die sich selbst -zu kennen strebte.

Das erste Gemälde, welches als eine Erholung von den bisherigen Abspan¬
nungen von dem gesammten deutschen. Lesepublikmn mit großer Freude begrüßt


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[0498] sondern in allen Pergamenten, wie das Recht, das die Juristen der historischen Schule verkündeten. Es war natürlich, daß diese Visionen eines geträumten Volks dem wirklichen Volk noch viel unverständlicher sein mußten, als die Verschrobenheiten einer über¬ feinen Bildung. Hoffmann faud noch immer Serapionsbrüder, die sich für die tiefe, mystische Idee eines über die Grenzen der wirklichen Welk hinausragenden Don Juan begeisterten; aber Anim wandelte in seinem mittelalterlichen Gespen¬ sterkostüm in unheimlicher Einsamkeit unter den Lebendigen herum, ein Spuk für nervenschwache Seelen, eine Fratze für die Gesunden , die das Lachen noch uicht verlernt hatten. Und deren gab es noch immer genug im deutschen Volte. Im Ausland, wo man unser Wesen ans unsern Belletristen studirte, war man fest überzeugt, jeder Deutsche müsse entweder beim Theetisch Sonette ans Calderon, Dante und Jacob Böhme vorlesen, oder in einer Spinnstube deu süßen Schauer einer Ge¬ spenstergeschichte empfinde»; er müsse entweder nächtlich an dem Grabe irgend einer zu früh verstorbenen Geliebten weinen, und sich gelegentlich erschießen; oder er müsse auf deu Dächern mit geschlossenen Augen im blassen Mondlicht umherspa¬ zieren; er müsse sich entweder in ewigen Seufzern um den lieben Herrgott und die Jungfrau Maria in dunkeler Kanuner verzehren, oder mit titanischer Hast auf den Trümmern von Sein, Nichtsein, Dasein, Werden, Welt, Idee u. s. w. zum leeren Himmel emporklimmen, um dort in schwindelnder Leere mit gespenstigem, wahnsinnigem Lachen das eigne Herz zu zerfleischen, die letzte Realität, die seine Speculation übrig gelassen hatte. So stellten sich die Ausländer das deutsche Volk vor. Das Bild war so einseitig, wie die Belletristik, ans der es geschöpft war, und die eigentlich nichts anders darstellte, als sich selber. Es ist noch nicht lange her, daß die schöne Literatur dieser beständigen Kreisbewegungen müde geworden ist und angefangen hat, aus sich herauszugehn, sich mit der ihr bisher ganz fremd gebliebenen Wirklichkeit zu beschäftigen. Das regere Leben in der Politik machte der visionären Traumwirthschaft ein Ende, und wer sich nicht mit dem Fallen und Steigen der Course, mit der rationellen Staatswirthschaft, der Auseinandersetzung der Gemeindegüter, dem Erbfvlgegesetz und der deutschen Einheit beschäftigen mochte, schnallte sein Tornister und nahm den Wanderstab in die Hand, um die von dem zersetzenden Hauch der Romantik uoch nicht berührten Naturformen aufzusuchen, an deren ursprünglichem Leben er die Wärme des eignen Herzens wieder anfachen konnte. So wurde die Darstellung des Origineller, Naturwüchsigen, das Idyll, ein wesentliches Moment der modernen Dichtung, die sich selbst -zu kennen strebte. Das erste Gemälde, welches als eine Erholung von den bisherigen Abspan¬ nungen von dem gesammten deutschen. Lesepublikmn mit großer Freude begrüßt

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 9, 1850, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341568_185336/498>, abgerufen am 25.08.2024.