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Die Grenzboten. Jg. 9, 1850, I. Semester. II. Band.

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Die Furcht Emiliens vor der Verführung ist so krankhaft, daß sie eine sehr
zweideutige Empfehlung ist für die Tugend, die in der Flucht besteht. Emilie
erzählt, daß sie mit ihrer Mutter uur eine Stunde im Hause des Kanzlers Gri-
maldi gewesen, und daß dort ihr Blut so in Wallung gerathen sei, daß sie
für nichts stehen könne. Ich muß gestehen, daß mir das absolut unverständlich
ist. Emilie ist aus einem adligen Hause, die Tochter eines strengen, sittlichen
Vaters; was kann sie im Gesellschaftssaal der Grimaldi's gesehen haben, das
ihr Blut so in Wallung gesetzt hat? Vor dem absolut Gemeinen müßte sie schon
ihre ästhetische Erziehung bewahrt haben, die moralische kommt dabei gar nicht in
Betracht. Die feinere Verführung sieht mau aber doch nicht gleich in der ersten
Stunde im Gesellschaftssaal. -- Wenn man aber bedenkt, daß sie in dem Augen¬
blick, wo ihr Bräutigam ermordet, ihr Haus beschimpft, sie selbst durch schmutzige
Gewaltthat besudelt ist; daß sie in diesem Augenblick von dem Mörder ver¬
führt zu werden fürchtet; daß ihr Stolz, ihr Unwille vor der Furcht verstummt;
daß sie sich dazu hergibt, mit dem Wüstling ein anderes Wort zu wechseln, als
das grenzenloser Verachtung, unergründlichen Hasses; so weiß man in der That
nicht, was mau dazu denken soll.

Es ist nicht anders, Emilia bringt die Verführung, die sie fürchtet, in der
eignen Seele mit. Der Einsiedler mag sich kasteien, soviel er will, er empfin¬
det doch Brunst, er empfindet sie als ein unfreiwilliges Verbrechen.

Die Tugend, die Pflicht ist ein äußerliches Gespenst; sie ist nicht die Er¬
füllung, die Heiligung des eignen Wesens; sie ist nur in der Furcht und dem
Zitiern. -- Eine Trennung des Idealen und Realen, wie sie die Grundlage des
subjectiven Idealismus ausmacht, wie sie aber in dieser Schärfe nur in der
Emilie .dargestellt ist. -- Diese klösterliche, stoische Tugend, welche die Welt
fliehen muß, um ihre Ansteckung zu vermeiden, ist unprodnctiv für die Geschichte,
uuproductiv für die wahre Sittlichkeit. Sie traut sich selber nicht; sie klügelt
und kommt auf deu gewaltsamsten Ausweg. Emilia läßt sich durch die Berech¬
nung feiger Klugheit, hinter die sich die Scham über eine geheime Schuld ver¬
steckt, verleiten, das Attentat des Prinzen ihrem Bräutigam zu verschweigen; sie
verleitet ihren Vater, deu Knoten zu zerhauen, zu dessen Lösung ihr die Sicher¬
heit des Selbstgefühls fehlt.

Ich erinnere beiläufig daran, daß eine ähnliche Verschrobenheit des sittlichen
Selbstgefühls der Minna Barnhelm zu Grnnde liegt. Auch Tellheim ist ein
Knecht der äußerlichen Ehre, er weiß diese Knechtschaft nicht zu überwinden.
Aber in einer Lnstspielfignr ist dieses Moment der zeitlichen Bestimmtheit in
den sittlichen Ansichten zu erlangen, wenn es nnr nicht ins Sentimentale ge¬
zogen wird, was freilich in der Minna von Barnhelm hin und wieder geschieht.

Unklare sittliche Begriffe sehen unfertige sittliche Zustände voraus. Die Zu¬
stände des 18. Jahrhunderts waren es mehr als irgend eine andere Periode der


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Die Furcht Emiliens vor der Verführung ist so krankhaft, daß sie eine sehr
zweideutige Empfehlung ist für die Tugend, die in der Flucht besteht. Emilie
erzählt, daß sie mit ihrer Mutter uur eine Stunde im Hause des Kanzlers Gri-
maldi gewesen, und daß dort ihr Blut so in Wallung gerathen sei, daß sie
für nichts stehen könne. Ich muß gestehen, daß mir das absolut unverständlich
ist. Emilie ist aus einem adligen Hause, die Tochter eines strengen, sittlichen
Vaters; was kann sie im Gesellschaftssaal der Grimaldi's gesehen haben, das
ihr Blut so in Wallung gesetzt hat? Vor dem absolut Gemeinen müßte sie schon
ihre ästhetische Erziehung bewahrt haben, die moralische kommt dabei gar nicht in
Betracht. Die feinere Verführung sieht mau aber doch nicht gleich in der ersten
Stunde im Gesellschaftssaal. — Wenn man aber bedenkt, daß sie in dem Augen¬
blick, wo ihr Bräutigam ermordet, ihr Haus beschimpft, sie selbst durch schmutzige
Gewaltthat besudelt ist; daß sie in diesem Augenblick von dem Mörder ver¬
führt zu werden fürchtet; daß ihr Stolz, ihr Unwille vor der Furcht verstummt;
daß sie sich dazu hergibt, mit dem Wüstling ein anderes Wort zu wechseln, als
das grenzenloser Verachtung, unergründlichen Hasses; so weiß man in der That
nicht, was mau dazu denken soll.

Es ist nicht anders, Emilia bringt die Verführung, die sie fürchtet, in der
eignen Seele mit. Der Einsiedler mag sich kasteien, soviel er will, er empfin¬
det doch Brunst, er empfindet sie als ein unfreiwilliges Verbrechen.

Die Tugend, die Pflicht ist ein äußerliches Gespenst; sie ist nicht die Er¬
füllung, die Heiligung des eignen Wesens; sie ist nur in der Furcht und dem
Zitiern. — Eine Trennung des Idealen und Realen, wie sie die Grundlage des
subjectiven Idealismus ausmacht, wie sie aber in dieser Schärfe nur in der
Emilie .dargestellt ist. — Diese klösterliche, stoische Tugend, welche die Welt
fliehen muß, um ihre Ansteckung zu vermeiden, ist unprodnctiv für die Geschichte,
uuproductiv für die wahre Sittlichkeit. Sie traut sich selber nicht; sie klügelt
und kommt auf deu gewaltsamsten Ausweg. Emilia läßt sich durch die Berech¬
nung feiger Klugheit, hinter die sich die Scham über eine geheime Schuld ver¬
steckt, verleiten, das Attentat des Prinzen ihrem Bräutigam zu verschweigen; sie
verleitet ihren Vater, deu Knoten zu zerhauen, zu dessen Lösung ihr die Sicher¬
heit des Selbstgefühls fehlt.

Ich erinnere beiläufig daran, daß eine ähnliche Verschrobenheit des sittlichen
Selbstgefühls der Minna Barnhelm zu Grnnde liegt. Auch Tellheim ist ein
Knecht der äußerlichen Ehre, er weiß diese Knechtschaft nicht zu überwinden.
Aber in einer Lnstspielfignr ist dieses Moment der zeitlichen Bestimmtheit in
den sittlichen Ansichten zu erlangen, wenn es nnr nicht ins Sentimentale ge¬
zogen wird, was freilich in der Minna von Barnhelm hin und wieder geschieht.

Unklare sittliche Begriffe sehen unfertige sittliche Zustände voraus. Die Zu¬
stände des 18. Jahrhunderts waren es mehr als irgend eine andere Periode der


50*
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[0475] Die Furcht Emiliens vor der Verführung ist so krankhaft, daß sie eine sehr zweideutige Empfehlung ist für die Tugend, die in der Flucht besteht. Emilie erzählt, daß sie mit ihrer Mutter uur eine Stunde im Hause des Kanzlers Gri- maldi gewesen, und daß dort ihr Blut so in Wallung gerathen sei, daß sie für nichts stehen könne. Ich muß gestehen, daß mir das absolut unverständlich ist. Emilie ist aus einem adligen Hause, die Tochter eines strengen, sittlichen Vaters; was kann sie im Gesellschaftssaal der Grimaldi's gesehen haben, das ihr Blut so in Wallung gesetzt hat? Vor dem absolut Gemeinen müßte sie schon ihre ästhetische Erziehung bewahrt haben, die moralische kommt dabei gar nicht in Betracht. Die feinere Verführung sieht mau aber doch nicht gleich in der ersten Stunde im Gesellschaftssaal. — Wenn man aber bedenkt, daß sie in dem Augen¬ blick, wo ihr Bräutigam ermordet, ihr Haus beschimpft, sie selbst durch schmutzige Gewaltthat besudelt ist; daß sie in diesem Augenblick von dem Mörder ver¬ führt zu werden fürchtet; daß ihr Stolz, ihr Unwille vor der Furcht verstummt; daß sie sich dazu hergibt, mit dem Wüstling ein anderes Wort zu wechseln, als das grenzenloser Verachtung, unergründlichen Hasses; so weiß man in der That nicht, was mau dazu denken soll. Es ist nicht anders, Emilia bringt die Verführung, die sie fürchtet, in der eignen Seele mit. Der Einsiedler mag sich kasteien, soviel er will, er empfin¬ det doch Brunst, er empfindet sie als ein unfreiwilliges Verbrechen. Die Tugend, die Pflicht ist ein äußerliches Gespenst; sie ist nicht die Er¬ füllung, die Heiligung des eignen Wesens; sie ist nur in der Furcht und dem Zitiern. — Eine Trennung des Idealen und Realen, wie sie die Grundlage des subjectiven Idealismus ausmacht, wie sie aber in dieser Schärfe nur in der Emilie .dargestellt ist. — Diese klösterliche, stoische Tugend, welche die Welt fliehen muß, um ihre Ansteckung zu vermeiden, ist unprodnctiv für die Geschichte, uuproductiv für die wahre Sittlichkeit. Sie traut sich selber nicht; sie klügelt und kommt auf deu gewaltsamsten Ausweg. Emilia läßt sich durch die Berech¬ nung feiger Klugheit, hinter die sich die Scham über eine geheime Schuld ver¬ steckt, verleiten, das Attentat des Prinzen ihrem Bräutigam zu verschweigen; sie verleitet ihren Vater, deu Knoten zu zerhauen, zu dessen Lösung ihr die Sicher¬ heit des Selbstgefühls fehlt. Ich erinnere beiläufig daran, daß eine ähnliche Verschrobenheit des sittlichen Selbstgefühls der Minna Barnhelm zu Grnnde liegt. Auch Tellheim ist ein Knecht der äußerlichen Ehre, er weiß diese Knechtschaft nicht zu überwinden. Aber in einer Lnstspielfignr ist dieses Moment der zeitlichen Bestimmtheit in den sittlichen Ansichten zu erlangen, wenn es nnr nicht ins Sentimentale ge¬ zogen wird, was freilich in der Minna von Barnhelm hin und wieder geschieht. Unklare sittliche Begriffe sehen unfertige sittliche Zustände voraus. Die Zu¬ stände des 18. Jahrhunderts waren es mehr als irgend eine andere Periode der 50*

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 9, 1850, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341568_185336/475>, abgerufen am 22.07.2024.