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Die Grenzboten. Jg. 9, 1850, I. Semester. II. Band.

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die Seelenlehre aus einer bloßen BegrifsSwissenschaft zur Naturwissenschaft um¬
gewandelt hat?

Der zweite Haupteinwurf des Verf. ist, daß es unmöglich sei, die Organe
der Geistesvermögen im Gehirn nachzuweisen. Aber woher weiß man überhaupt,
daß das Gehirn das Organ des Geistes ist? Daher hauptsächlich, weil das Ge¬
hirn von den niederen Thieren zu den höheren und zum Menschen übereiustiuuneud
mit den geistigen Fähigkeiten an Größe zunimmt. Derselbe Schluß wird daher
auch im Einzelnen gelten, wenn z. B. die Größe des vordem Gehirnlappenö
mit dem Maß der Verstandeskräfte in stetiger Uebereinstimmung gefunden wird.
Und auch dann, wenn sich die Beobachtung uoch weiter erstreckt, wenn z. B. die
stetige Uebereinstimmung der Größe eines bestimmten Theils des vordem GeHirn¬
lappens mit der Starke eines einzelnen Verstandesvermögens nachgewiesen wer¬
den kann, auch dann wird gegen die Logik desselben Schlusses nichts einzuwen¬
den sein. Es fragt sich also nur, ob diese Nachweisung, die eine schwierige sein
mag, wirklich gegeben wird. Gegen ihre Möglichkeit streiten, wie der Verf.
thut, läßt sich nicht. Jedoch die Beweise für die einzelnen Gehirnorganc sind
überdies in den Fällen der Verwundung oder Verlegung und der Krankheit der
einzelnen Organe gegeben, Fälle, die in sehr großer Zahl in den Werken Gall's
und der Phrenologen niedergelegt sind.

Der Aussatz enthält keine weiteren directen Angriffe auf die Phrenologie;
ich konnte daher dessen Widerlegung hier für geschlossen halten, füge aber noch
wenige Worte hinzu. Der Aufsatz ist viel zu allgemein und zu unbestimmt ge¬
halten. Wer jetzt gegen die Phrenologie, die sich u"u einmal fattisth einigen
Boden gewonnen, ankämpfen null, der muß besser ins Zeug gehen, er darf vor
Allem uicht bloß negiren. Wenn nach dein Vers, die Phrenologie nichts von den
Verrichtungen des Gehirns weiß, was weiß denn er davon? Es ist ihm z. B.
bekannt, wie sehr viele Gelehrte die Dreitheilung des Gehirns in die Organe der
thierischen Triebe, der Gemüths- und der Verstandeskräfte -- eine gute Hälfte
der Phrenologie -- als wohlbegründet annehmen; auch er mußte bestimmt seine
Ansicht hierüber aussprechen und begründen. Das bloße Negiren ist so schwach.
Der Verf. hat dies gefühlt und sucht seinem Aufsatz durch einige Nebenbemer-
kungen, welche die Wissenschaft uicht berühren, einiges Relief zu geben. Er
neunt z. B. Struve Chef der Phrenologie. Warum das, da er wußte, daß es
nicht so ist? Oder er sagt, die Phrenologie sei seit Gall's Zeiten in Vergessen¬
heit gerathen. Nachdem Galt Deutschland verlassen, kam natürlich hier die Phre¬
nologie in Vergessenheit, weil Niemand da war, der sie vertrat; aber in Frank¬
reich und in England, wohin sich Galt und Spurzheim wendeten, fand die Lehre
die beste und nachhaltigste Aufnahme. Oder er sagt, die Apostel der Phrenolo¬
gie -- womit uuter Ander" meine Wenigkeit gemeint ist -- "wendeten sich mehr
an das allgemeine Publicum, als an die Männer vou wissenschaftlicher Competenz."


die Seelenlehre aus einer bloßen BegrifsSwissenschaft zur Naturwissenschaft um¬
gewandelt hat?

Der zweite Haupteinwurf des Verf. ist, daß es unmöglich sei, die Organe
der Geistesvermögen im Gehirn nachzuweisen. Aber woher weiß man überhaupt,
daß das Gehirn das Organ des Geistes ist? Daher hauptsächlich, weil das Ge¬
hirn von den niederen Thieren zu den höheren und zum Menschen übereiustiuuneud
mit den geistigen Fähigkeiten an Größe zunimmt. Derselbe Schluß wird daher
auch im Einzelnen gelten, wenn z. B. die Größe des vordem Gehirnlappenö
mit dem Maß der Verstandeskräfte in stetiger Uebereinstimmung gefunden wird.
Und auch dann, wenn sich die Beobachtung uoch weiter erstreckt, wenn z. B. die
stetige Uebereinstimmung der Größe eines bestimmten Theils des vordem GeHirn¬
lappens mit der Starke eines einzelnen Verstandesvermögens nachgewiesen wer¬
den kann, auch dann wird gegen die Logik desselben Schlusses nichts einzuwen¬
den sein. Es fragt sich also nur, ob diese Nachweisung, die eine schwierige sein
mag, wirklich gegeben wird. Gegen ihre Möglichkeit streiten, wie der Verf.
thut, läßt sich nicht. Jedoch die Beweise für die einzelnen Gehirnorganc sind
überdies in den Fällen der Verwundung oder Verlegung und der Krankheit der
einzelnen Organe gegeben, Fälle, die in sehr großer Zahl in den Werken Gall's
und der Phrenologen niedergelegt sind.

Der Aussatz enthält keine weiteren directen Angriffe auf die Phrenologie;
ich konnte daher dessen Widerlegung hier für geschlossen halten, füge aber noch
wenige Worte hinzu. Der Aufsatz ist viel zu allgemein und zu unbestimmt ge¬
halten. Wer jetzt gegen die Phrenologie, die sich u»u einmal fattisth einigen
Boden gewonnen, ankämpfen null, der muß besser ins Zeug gehen, er darf vor
Allem uicht bloß negiren. Wenn nach dein Vers, die Phrenologie nichts von den
Verrichtungen des Gehirns weiß, was weiß denn er davon? Es ist ihm z. B.
bekannt, wie sehr viele Gelehrte die Dreitheilung des Gehirns in die Organe der
thierischen Triebe, der Gemüths- und der Verstandeskräfte — eine gute Hälfte
der Phrenologie — als wohlbegründet annehmen; auch er mußte bestimmt seine
Ansicht hierüber aussprechen und begründen. Das bloße Negiren ist so schwach.
Der Verf. hat dies gefühlt und sucht seinem Aufsatz durch einige Nebenbemer-
kungen, welche die Wissenschaft uicht berühren, einiges Relief zu geben. Er
neunt z. B. Struve Chef der Phrenologie. Warum das, da er wußte, daß es
nicht so ist? Oder er sagt, die Phrenologie sei seit Gall's Zeiten in Vergessen¬
heit gerathen. Nachdem Galt Deutschland verlassen, kam natürlich hier die Phre¬
nologie in Vergessenheit, weil Niemand da war, der sie vertrat; aber in Frank¬
reich und in England, wohin sich Galt und Spurzheim wendeten, fand die Lehre
die beste und nachhaltigste Aufnahme. Oder er sagt, die Apostel der Phrenolo¬
gie — womit uuter Ander» meine Wenigkeit gemeint ist — „wendeten sich mehr
an das allgemeine Publicum, als an die Männer vou wissenschaftlicher Competenz."


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[0444] die Seelenlehre aus einer bloßen BegrifsSwissenschaft zur Naturwissenschaft um¬ gewandelt hat? Der zweite Haupteinwurf des Verf. ist, daß es unmöglich sei, die Organe der Geistesvermögen im Gehirn nachzuweisen. Aber woher weiß man überhaupt, daß das Gehirn das Organ des Geistes ist? Daher hauptsächlich, weil das Ge¬ hirn von den niederen Thieren zu den höheren und zum Menschen übereiustiuuneud mit den geistigen Fähigkeiten an Größe zunimmt. Derselbe Schluß wird daher auch im Einzelnen gelten, wenn z. B. die Größe des vordem Gehirnlappenö mit dem Maß der Verstandeskräfte in stetiger Uebereinstimmung gefunden wird. Und auch dann, wenn sich die Beobachtung uoch weiter erstreckt, wenn z. B. die stetige Uebereinstimmung der Größe eines bestimmten Theils des vordem GeHirn¬ lappens mit der Starke eines einzelnen Verstandesvermögens nachgewiesen wer¬ den kann, auch dann wird gegen die Logik desselben Schlusses nichts einzuwen¬ den sein. Es fragt sich also nur, ob diese Nachweisung, die eine schwierige sein mag, wirklich gegeben wird. Gegen ihre Möglichkeit streiten, wie der Verf. thut, läßt sich nicht. Jedoch die Beweise für die einzelnen Gehirnorganc sind überdies in den Fällen der Verwundung oder Verlegung und der Krankheit der einzelnen Organe gegeben, Fälle, die in sehr großer Zahl in den Werken Gall's und der Phrenologen niedergelegt sind. Der Aussatz enthält keine weiteren directen Angriffe auf die Phrenologie; ich konnte daher dessen Widerlegung hier für geschlossen halten, füge aber noch wenige Worte hinzu. Der Aufsatz ist viel zu allgemein und zu unbestimmt ge¬ halten. Wer jetzt gegen die Phrenologie, die sich u»u einmal fattisth einigen Boden gewonnen, ankämpfen null, der muß besser ins Zeug gehen, er darf vor Allem uicht bloß negiren. Wenn nach dein Vers, die Phrenologie nichts von den Verrichtungen des Gehirns weiß, was weiß denn er davon? Es ist ihm z. B. bekannt, wie sehr viele Gelehrte die Dreitheilung des Gehirns in die Organe der thierischen Triebe, der Gemüths- und der Verstandeskräfte — eine gute Hälfte der Phrenologie — als wohlbegründet annehmen; auch er mußte bestimmt seine Ansicht hierüber aussprechen und begründen. Das bloße Negiren ist so schwach. Der Verf. hat dies gefühlt und sucht seinem Aufsatz durch einige Nebenbemer- kungen, welche die Wissenschaft uicht berühren, einiges Relief zu geben. Er neunt z. B. Struve Chef der Phrenologie. Warum das, da er wußte, daß es nicht so ist? Oder er sagt, die Phrenologie sei seit Gall's Zeiten in Vergessen¬ heit gerathen. Nachdem Galt Deutschland verlassen, kam natürlich hier die Phre¬ nologie in Vergessenheit, weil Niemand da war, der sie vertrat; aber in Frank¬ reich und in England, wohin sich Galt und Spurzheim wendeten, fand die Lehre die beste und nachhaltigste Aufnahme. Oder er sagt, die Apostel der Phrenolo¬ gie — womit uuter Ander» meine Wenigkeit gemeint ist — „wendeten sich mehr an das allgemeine Publicum, als an die Männer vou wissenschaftlicher Competenz."

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 9, 1850, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341568_185336/444>, abgerufen am 22.07.2024.