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Die Grenzboten. Jg. 9, 1850, I. Semester. II. Band.

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wenn es nicht zu einer Haupt- und StaatSaction im Geschmack des 17. Jahr¬
hunderts herabsinken soll, wie die Sudelei, welche in den letzten Tagen den
Beifall des Leipziger Publikums in so hohem Grade erregt hat, darf das nicht,
es muß uns vielmehr die Individualität der Zeit, welche es uns darstellen will,
in sich selbst und in ihrem Verhältniß zu unserm eignen Glauben, wie in ihrem
Verhältniß zu dein über die zeitliche Bedingtheit hinausreichenden menschlichen
und göttlichen Recht verständlich macheu. Wollte uns der Dichter mitten in das
Fieber einer aufgeregte", revolutionären Zeit versetzen, deren Inhalt qualitativ
von der unsrigen verschieden ist, ohne dasselbe genetisch zu entwickeln, so würden
wir, je treuer er schildert, um so mehr glauben, uns in einem Irrenhause zu be-
finden, wir würden weder die Sprache noch die Empfindungen der Menschen ver¬
stehen, die durch einen fremden Geist aus ihrer Sphäre herausgerissen sind. Es
würde uns gehen, wie einem, der ohne die successive Steigerung der revolutionären
Leidenschaft verfolgt und gewissermaßen mit durchgemacht zu haben, den Moniteur
des Jahres 93 aufschlüge.

So we>üg, wie durch die Verständlichkeit der den Schicksalen zu Grunde
liegenden sittlichen Basis, ist das historische Drama dnrch das Herabdrücken der
Individualität uuter die allgemeine Erregung geeignet, die' objective Darstellung
zu erleichtern. Man sagt, und mit Recht, daß trotz der Verkehrtheiten, welche
auf der Oberfläche der Gesellschaft zur Erscheinung kommen, im Grunde die mensch¬
liche Natur doch stark genug sei, um von diesen Verirrungen nicht vollständig
unterwühlt zu werden; daß die sittliche Gesinnung des Volks über der Schuld der
Individuen stehe. Aber eine seltsame Verkehrtheit ist es, dieses "Volk" den
handelnden Individuen gegenüberzustellen; eine Verkehrtheit, die sich am deutlich¬
sten auf der Bühne zeigt. Die sittliche Gesinnung ist eine Abstraction, die han¬
delnden Individuen siud eine Abstraction; sie sind nicht in ihren Trägern ver¬
schieden , soudern nur in dem Gesichtspunkt, von dem mau sie auffaßt. Der Chor
der Alten ist nicht das "Volk" im Gegensatz zu deu "Helden," sondern die unbe-
theiligte Reflexion im Gegensatz zur Leidenschaft. Daß auch die erstere in Schuld
verfallen könne, hat der Hamlet der modernen Tragödie sehr gründlich nachge¬
wiesen. Dem modernen Drama steht jene Abstraction des Chors nicht zu Gebote;
wenn es also das Volk auf die Bühne bringt, so kaun eS dasselbe nur in den
Individuen zeigen, nud diese siud natürlich viel weniger berechtigt als die eigent¬
lichen Helden, die einen weiteren Gesichtskreis, einen stärkeren Willen und eine
größere Stellung haben. ES ist nicht aristokratische Gesinnung, wenn Shakespeare
im Coriolan und Cäsar, wenn Goethe im Egmont das Volk als Pöbel darstellt,
es liegt vielmehr in der Natur der Sache, und der angeblich demokratische Dich¬
ter Gricpenkerl hat es nicht besser zu machen gewußt. Der Dichter mag 10, 20,
100 Statisten als Volk zusammentrommeln, es sind immer nnr einzelne Statisten,


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wenn es nicht zu einer Haupt- und StaatSaction im Geschmack des 17. Jahr¬
hunderts herabsinken soll, wie die Sudelei, welche in den letzten Tagen den
Beifall des Leipziger Publikums in so hohem Grade erregt hat, darf das nicht,
es muß uns vielmehr die Individualität der Zeit, welche es uns darstellen will,
in sich selbst und in ihrem Verhältniß zu unserm eignen Glauben, wie in ihrem
Verhältniß zu dein über die zeitliche Bedingtheit hinausreichenden menschlichen
und göttlichen Recht verständlich macheu. Wollte uns der Dichter mitten in das
Fieber einer aufgeregte», revolutionären Zeit versetzen, deren Inhalt qualitativ
von der unsrigen verschieden ist, ohne dasselbe genetisch zu entwickeln, so würden
wir, je treuer er schildert, um so mehr glauben, uns in einem Irrenhause zu be-
finden, wir würden weder die Sprache noch die Empfindungen der Menschen ver¬
stehen, die durch einen fremden Geist aus ihrer Sphäre herausgerissen sind. Es
würde uns gehen, wie einem, der ohne die successive Steigerung der revolutionären
Leidenschaft verfolgt und gewissermaßen mit durchgemacht zu haben, den Moniteur
des Jahres 93 aufschlüge.

So we>üg, wie durch die Verständlichkeit der den Schicksalen zu Grunde
liegenden sittlichen Basis, ist das historische Drama dnrch das Herabdrücken der
Individualität uuter die allgemeine Erregung geeignet, die' objective Darstellung
zu erleichtern. Man sagt, und mit Recht, daß trotz der Verkehrtheiten, welche
auf der Oberfläche der Gesellschaft zur Erscheinung kommen, im Grunde die mensch¬
liche Natur doch stark genug sei, um von diesen Verirrungen nicht vollständig
unterwühlt zu werden; daß die sittliche Gesinnung des Volks über der Schuld der
Individuen stehe. Aber eine seltsame Verkehrtheit ist es, dieses „Volk" den
handelnden Individuen gegenüberzustellen; eine Verkehrtheit, die sich am deutlich¬
sten auf der Bühne zeigt. Die sittliche Gesinnung ist eine Abstraction, die han¬
delnden Individuen siud eine Abstraction; sie sind nicht in ihren Trägern ver¬
schieden , soudern nur in dem Gesichtspunkt, von dem mau sie auffaßt. Der Chor
der Alten ist nicht das „Volk" im Gegensatz zu deu „Helden," sondern die unbe-
theiligte Reflexion im Gegensatz zur Leidenschaft. Daß auch die erstere in Schuld
verfallen könne, hat der Hamlet der modernen Tragödie sehr gründlich nachge¬
wiesen. Dem modernen Drama steht jene Abstraction des Chors nicht zu Gebote;
wenn es also das Volk auf die Bühne bringt, so kaun eS dasselbe nur in den
Individuen zeigen, nud diese siud natürlich viel weniger berechtigt als die eigent¬
lichen Helden, die einen weiteren Gesichtskreis, einen stärkeren Willen und eine
größere Stellung haben. ES ist nicht aristokratische Gesinnung, wenn Shakespeare
im Coriolan und Cäsar, wenn Goethe im Egmont das Volk als Pöbel darstellt,
es liegt vielmehr in der Natur der Sache, und der angeblich demokratische Dich¬
ter Gricpenkerl hat es nicht besser zu machen gewußt. Der Dichter mag 10, 20,
100 Statisten als Volk zusammentrommeln, es sind immer nnr einzelne Statisten,


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 9, 1850, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341568_185336/27>, abgerufen am 22.07.2024.