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Die Grenzboten. Jg. 9, 1850, I. Semester. II. Band.

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Abgesehen von diesen Äußerlichkeiten, athmen^, diese Tragödien in wilder
Kraft den Geist der südlichen Poesie, wie er durch das Zeitalter der Aufklärung
und durch die Regelmäßigkeit des classischen Dramas in Frankreich seit langer
Zeit erstickt war. Phantasie und Leidenschaft sind vollständig losgebunden;, das
sittliche Gesetz, aus einzelne äußerliche kirchliche Bestimmungen und eine gewisse
oberflächliche Bonhommie zurückgeführt, läßt die menschliche Willkür unge-
bändigt und ungebildet. -- So wild die entfesselte Natur sich gebärdet, und
s^o wenig sie zu einem verständigen Ausdruck eiuer sittlichen Wahrheit sich erheben
kann, so ist in dieser unbedingten Freiheit ein großer Fortschritt gegen die ge¬
machte Moral des Hofes vou Versailles, die Moral, im Reifrock und in der
Perrücke, uicht zu verkennen. Der Dichter tritt nämlich die Convenienz, der sich
die Calderonschcn Cavaliere nicht entziehen können, die Convenienz der Ehre
und Galanterie, eben so mit Füßen, als das christliche Gesetz; und die letzte"
Reminiscenzen an die Idee des Guten, die Gewissensbisse, die selbst bei Cal-
deron, wenn auch latent, doch immer bis zu einem gewissen Grad im Innern
des Menschen vorhanden sind, hören auf. -- Außerdem ist der Schwulst der
spanische" Bildersprache, die bei Victor Hugo wieder höchst beleidigend hervortritt,
völlig überwunden -- die Prosa ist dazu ein sehr gutes Mittel -- und was die
neuere Dichtung Shakespeare abgelernt hat, die scharfe, bis in die Sprache
fortgehende Charakteristik der Personen, ist mit einer Virtuosität ausgeführt, wie
sie bei den Franzosen selten ist. -- Damit ist noch nicht gesagt, daß die Stücke,
als Ganzes betrachtet, gut sein sollten; im Gegentheil. Aber als Studien, als
Vorbereitungen für die spätere Romantik, sind sie von Bedeutung; um so mehr,
da von der gespreizten Sentimentalität, dem gezierten Wesen der letztern noch keine
Spur in ihnen vorkommt; sie sind naiv, trotz ihres Raffinements. -- Ich gehe
zum Einzelnen über.

Uns ksmmL est un clmdlL, un Ki, tontatlui" 6u Le. ^utoine. --- Eine junge
Zigeunerin, wild, naiv, leichtfinnig und liebenswürdig in ihrer Gedankenlosigkeit,
wird der Ketzerei angeklagt und vor die Inquisition gefordert. Die Gewalt ihrer
Reize ist aber so groß, daß uuter ihren Richtern nicht blos zwei alte Tartüffe'S,
die ihr Amt nnr zum Deckmantel geheimer Sünden mißbrauchen, sondern
auch der dritte, ein ascetischer Schwärmer, verführt werden. Dem Letztern wird
trotz seiner brennenden Gewissensbisse dergestalt der Kopf verdreht, daß er einem
seiner Kollegen, in dem er den Nebenbuhler entdeckt, einen Dolch in's Herz
stößt, und mit ihr entflieht, um sie zu heirathen. Das lustige Mädchen wird
aber den alten Fanatiker im Stich lassen, sobald sie durch ihn befreit sein
wird, und er muß dann wahnsinnig werden, oder sich selbst seinen Richtern über¬
liefern. -- Das kleine Stück ist sehr frivol und sehr unmoralisch, aber Mariquita



*) Man vergleich- meine Kritik Calderon'ö in " Geschichte der Romantik. Bd. I.

Abgesehen von diesen Äußerlichkeiten, athmen^, diese Tragödien in wilder
Kraft den Geist der südlichen Poesie, wie er durch das Zeitalter der Aufklärung
und durch die Regelmäßigkeit des classischen Dramas in Frankreich seit langer
Zeit erstickt war. Phantasie und Leidenschaft sind vollständig losgebunden;, das
sittliche Gesetz, aus einzelne äußerliche kirchliche Bestimmungen und eine gewisse
oberflächliche Bonhommie zurückgeführt, läßt die menschliche Willkür unge-
bändigt und ungebildet. — So wild die entfesselte Natur sich gebärdet, und
s^o wenig sie zu einem verständigen Ausdruck eiuer sittlichen Wahrheit sich erheben
kann, so ist in dieser unbedingten Freiheit ein großer Fortschritt gegen die ge¬
machte Moral des Hofes vou Versailles, die Moral, im Reifrock und in der
Perrücke, uicht zu verkennen. Der Dichter tritt nämlich die Convenienz, der sich
die Calderonschcn Cavaliere nicht entziehen können, die Convenienz der Ehre
und Galanterie, eben so mit Füßen, als das christliche Gesetz; und die letzte»
Reminiscenzen an die Idee des Guten, die Gewissensbisse, die selbst bei Cal-
deron, wenn auch latent, doch immer bis zu einem gewissen Grad im Innern
des Menschen vorhanden sind, hören auf. — Außerdem ist der Schwulst der
spanische» Bildersprache, die bei Victor Hugo wieder höchst beleidigend hervortritt,
völlig überwunden — die Prosa ist dazu ein sehr gutes Mittel — und was die
neuere Dichtung Shakespeare abgelernt hat, die scharfe, bis in die Sprache
fortgehende Charakteristik der Personen, ist mit einer Virtuosität ausgeführt, wie
sie bei den Franzosen selten ist. — Damit ist noch nicht gesagt, daß die Stücke,
als Ganzes betrachtet, gut sein sollten; im Gegentheil. Aber als Studien, als
Vorbereitungen für die spätere Romantik, sind sie von Bedeutung; um so mehr,
da von der gespreizten Sentimentalität, dem gezierten Wesen der letztern noch keine
Spur in ihnen vorkommt; sie sind naiv, trotz ihres Raffinements. -- Ich gehe
zum Einzelnen über.

Uns ksmmL est un clmdlL, un Ki, tontatlui» 6u Le. ^utoine. -— Eine junge
Zigeunerin, wild, naiv, leichtfinnig und liebenswürdig in ihrer Gedankenlosigkeit,
wird der Ketzerei angeklagt und vor die Inquisition gefordert. Die Gewalt ihrer
Reize ist aber so groß, daß uuter ihren Richtern nicht blos zwei alte Tartüffe'S,
die ihr Amt nnr zum Deckmantel geheimer Sünden mißbrauchen, sondern
auch der dritte, ein ascetischer Schwärmer, verführt werden. Dem Letztern wird
trotz seiner brennenden Gewissensbisse dergestalt der Kopf verdreht, daß er einem
seiner Kollegen, in dem er den Nebenbuhler entdeckt, einen Dolch in's Herz
stößt, und mit ihr entflieht, um sie zu heirathen. Das lustige Mädchen wird
aber den alten Fanatiker im Stich lassen, sobald sie durch ihn befreit sein
wird, und er muß dann wahnsinnig werden, oder sich selbst seinen Richtern über¬
liefern. — Das kleine Stück ist sehr frivol und sehr unmoralisch, aber Mariquita



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[0210] Abgesehen von diesen Äußerlichkeiten, athmen^, diese Tragödien in wilder Kraft den Geist der südlichen Poesie, wie er durch das Zeitalter der Aufklärung und durch die Regelmäßigkeit des classischen Dramas in Frankreich seit langer Zeit erstickt war. Phantasie und Leidenschaft sind vollständig losgebunden;, das sittliche Gesetz, aus einzelne äußerliche kirchliche Bestimmungen und eine gewisse oberflächliche Bonhommie zurückgeführt, läßt die menschliche Willkür unge- bändigt und ungebildet. — So wild die entfesselte Natur sich gebärdet, und s^o wenig sie zu einem verständigen Ausdruck eiuer sittlichen Wahrheit sich erheben kann, so ist in dieser unbedingten Freiheit ein großer Fortschritt gegen die ge¬ machte Moral des Hofes vou Versailles, die Moral, im Reifrock und in der Perrücke, uicht zu verkennen. Der Dichter tritt nämlich die Convenienz, der sich die Calderonschcn Cavaliere nicht entziehen können, die Convenienz der Ehre und Galanterie, eben so mit Füßen, als das christliche Gesetz; und die letzte» Reminiscenzen an die Idee des Guten, die Gewissensbisse, die selbst bei Cal- deron, wenn auch latent, doch immer bis zu einem gewissen Grad im Innern des Menschen vorhanden sind, hören auf. — Außerdem ist der Schwulst der spanische» Bildersprache, die bei Victor Hugo wieder höchst beleidigend hervortritt, völlig überwunden — die Prosa ist dazu ein sehr gutes Mittel — und was die neuere Dichtung Shakespeare abgelernt hat, die scharfe, bis in die Sprache fortgehende Charakteristik der Personen, ist mit einer Virtuosität ausgeführt, wie sie bei den Franzosen selten ist. — Damit ist noch nicht gesagt, daß die Stücke, als Ganzes betrachtet, gut sein sollten; im Gegentheil. Aber als Studien, als Vorbereitungen für die spätere Romantik, sind sie von Bedeutung; um so mehr, da von der gespreizten Sentimentalität, dem gezierten Wesen der letztern noch keine Spur in ihnen vorkommt; sie sind naiv, trotz ihres Raffinements. -- Ich gehe zum Einzelnen über. Uns ksmmL est un clmdlL, un Ki, tontatlui» 6u Le. ^utoine. -— Eine junge Zigeunerin, wild, naiv, leichtfinnig und liebenswürdig in ihrer Gedankenlosigkeit, wird der Ketzerei angeklagt und vor die Inquisition gefordert. Die Gewalt ihrer Reize ist aber so groß, daß uuter ihren Richtern nicht blos zwei alte Tartüffe'S, die ihr Amt nnr zum Deckmantel geheimer Sünden mißbrauchen, sondern auch der dritte, ein ascetischer Schwärmer, verführt werden. Dem Letztern wird trotz seiner brennenden Gewissensbisse dergestalt der Kopf verdreht, daß er einem seiner Kollegen, in dem er den Nebenbuhler entdeckt, einen Dolch in's Herz stößt, und mit ihr entflieht, um sie zu heirathen. Das lustige Mädchen wird aber den alten Fanatiker im Stich lassen, sobald sie durch ihn befreit sein wird, und er muß dann wahnsinnig werden, oder sich selbst seinen Richtern über¬ liefern. — Das kleine Stück ist sehr frivol und sehr unmoralisch, aber Mariquita *) Man vergleich- meine Kritik Calderon'ö in „ Geschichte der Romantik. Bd. I.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 9, 1850, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341568_185336/210>, abgerufen am 26.06.2024.