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Die Grenzboten. Jg. 9, 1850, I. Semester. II. Band.

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Jahrhunderte lang getrennt, wurden durch das plötzliche Eintreten eines gemein¬
samen Elends vereinigt, der ganze Stamm fand eine gemeinsame Geschichte wieder.
In der Regel erheben sich die Völker zu einem lebendigen Nationalgefühl durch den
Einfluß eines großen Mannes, der aus ihrer Mitte als Repräsentant ihres We¬
sens hervorgeht; Deutschland erhob sich zu sich selbst durch den gemeinsamen Wi¬
derstand gegen ein fremdes System und einen fremden Helden. Mit seinem
Zögern, seinen unbestimmten und überschwellender Tugenden, mit seinem Genius,
der den Zufall über sich walten ließ, mit seinem irrenden Coömvpvlitismuö,
mit der Zerstreuung seines Gebiets und seines Denkens, bedürfte Deutschland
der Hand eines Napoleon, um es zusammenzupressen, es in seine Schranken zu¬
rückzudrängen, es zu lehren, daß es sich doch endlich in den Grenzen eines leben¬
digen nationalen Organismus sammeln müsse. -- Die Julirevolution bat die letzte
Hand an das Werk der Einigung Deutschlands gelegt. Trotz ihres linkischer
Wesens werden die Stände, angefeuert durch diesen fremden Impuls, nicht an¬
halten, bis sie das ganze System des Mittelalters zerstört haben. Wenn in jedem
einzelnen Duodezstaaten die Monarchie durch die Stäude unterwühlt sein wird, so
werden diese ephemeren Sonveränetäten sich friedlich in den Schooß eines constitutio-
nellen, nationalen Gemeinwillens versenken. -- In diesen kleinen Staaten bricht sich
der deutsche Geist, der gerade für umfassende Combinationen empfänglich ist, auf eine
klägliche Weise bei jedem Schritt an den Mauer", die ihn von allen Seiten umschränken.
Der Widerspruch zwischen der Größe der deutschen Ideen und der Kleinlichkeit
der Verhältnisse, auf welche sie angewendet werden sollen, ist zu groß geworden,
um noch länger dauern zu können. Der politische Ehrgeiz, erwacht seit 1814,
erstickt in der Enge dieser Kleinstaaten. Ich könnte die besten Männer Deutsch¬
lands nennen, denen der Boden unter den Füßen fehlt, und die an der Schwelle
irgend eines Fürstentums zusanuneustürzen, weil sie sich nicht bewegen können.
Seitdem die Verfassungen Bürger hervorgebracht habe", fehlt es blos an einem
politischen Vaterlande; und die illusorische Form des Bundestages, den Fürsten wie
den Völkern unbequem, muß sich in kurzer Zeit geräuschlos in die constitutionelle
Repräsentation aller Local-Souveräuetäten auflösen.--Die materiellen Inte¬
ressen treiben nach demselben Ziel: Die Aufhebung jener künstlichen Schranken,
hinter denen sie mit ihren Producten mukonnnett. Daher diese finstere Unzufrie¬
denheit, die ohne großen Lärm im Stillen fortbrütet, jener verhaltene Zorn, der
immer mehr Gift einsammelt und nur abwartet, durch eine bestimmte Anregung
aufs Aeußerste getrieben zu werden, und dadurch sein letztes Bedenken zu über¬
winden. -- -- Die Nothwendigkeit der Geschichte drängt eben dahin. Die eigen¬
thümliche protestantisch-germanische Cultur verlangt eine änßere, staatliche Dar¬
stellung; darum fügt sich der ganze Staunn der Leitung eines Staats, nicht wegen
seiner höhern Bildung, sondern wegen seiner größern Leidenschaft, seiner größern
Ansprüche, seiner größern GeschäftSkemttniß. In ihm sieht er den Träger seines


Jahrhunderte lang getrennt, wurden durch das plötzliche Eintreten eines gemein¬
samen Elends vereinigt, der ganze Stamm fand eine gemeinsame Geschichte wieder.
In der Regel erheben sich die Völker zu einem lebendigen Nationalgefühl durch den
Einfluß eines großen Mannes, der aus ihrer Mitte als Repräsentant ihres We¬
sens hervorgeht; Deutschland erhob sich zu sich selbst durch den gemeinsamen Wi¬
derstand gegen ein fremdes System und einen fremden Helden. Mit seinem
Zögern, seinen unbestimmten und überschwellender Tugenden, mit seinem Genius,
der den Zufall über sich walten ließ, mit seinem irrenden Coömvpvlitismuö,
mit der Zerstreuung seines Gebiets und seines Denkens, bedürfte Deutschland
der Hand eines Napoleon, um es zusammenzupressen, es in seine Schranken zu¬
rückzudrängen, es zu lehren, daß es sich doch endlich in den Grenzen eines leben¬
digen nationalen Organismus sammeln müsse. — Die Julirevolution bat die letzte
Hand an das Werk der Einigung Deutschlands gelegt. Trotz ihres linkischer
Wesens werden die Stände, angefeuert durch diesen fremden Impuls, nicht an¬
halten, bis sie das ganze System des Mittelalters zerstört haben. Wenn in jedem
einzelnen Duodezstaaten die Monarchie durch die Stäude unterwühlt sein wird, so
werden diese ephemeren Sonveränetäten sich friedlich in den Schooß eines constitutio-
nellen, nationalen Gemeinwillens versenken. — In diesen kleinen Staaten bricht sich
der deutsche Geist, der gerade für umfassende Combinationen empfänglich ist, auf eine
klägliche Weise bei jedem Schritt an den Mauer», die ihn von allen Seiten umschränken.
Der Widerspruch zwischen der Größe der deutschen Ideen und der Kleinlichkeit
der Verhältnisse, auf welche sie angewendet werden sollen, ist zu groß geworden,
um noch länger dauern zu können. Der politische Ehrgeiz, erwacht seit 1814,
erstickt in der Enge dieser Kleinstaaten. Ich könnte die besten Männer Deutsch¬
lands nennen, denen der Boden unter den Füßen fehlt, und die an der Schwelle
irgend eines Fürstentums zusanuneustürzen, weil sie sich nicht bewegen können.
Seitdem die Verfassungen Bürger hervorgebracht habe», fehlt es blos an einem
politischen Vaterlande; und die illusorische Form des Bundestages, den Fürsten wie
den Völkern unbequem, muß sich in kurzer Zeit geräuschlos in die constitutionelle
Repräsentation aller Local-Souveräuetäten auflösen.--Die materiellen Inte¬
ressen treiben nach demselben Ziel: Die Aufhebung jener künstlichen Schranken,
hinter denen sie mit ihren Producten mukonnnett. Daher diese finstere Unzufrie¬
denheit, die ohne großen Lärm im Stillen fortbrütet, jener verhaltene Zorn, der
immer mehr Gift einsammelt und nur abwartet, durch eine bestimmte Anregung
aufs Aeußerste getrieben zu werden, und dadurch sein letztes Bedenken zu über¬
winden. — — Die Nothwendigkeit der Geschichte drängt eben dahin. Die eigen¬
thümliche protestantisch-germanische Cultur verlangt eine änßere, staatliche Dar¬
stellung; darum fügt sich der ganze Staunn der Leitung eines Staats, nicht wegen
seiner höhern Bildung, sondern wegen seiner größern Leidenschaft, seiner größern
Ansprüche, seiner größern GeschäftSkemttniß. In ihm sieht er den Träger seines


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 9, 1850, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341568_185336/106>, abgerufen am 22.07.2024.