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Die Grenzboten. Jg. 8, 1849, II. Semester. IV. Band.

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Sprache und Vorstellung Alles, für den Geschmack Nichts gethan. Das bekannte
Motto des Sceptikers Montaigne: (tue "-"is-jo? kann mau eben so auf die Form
wie auf den Inhalt beziehn; wie er sich in den Wogen der von den verschieden¬
sten Seiten her einströmenden philosophischen Ideen scherzend badete, sich von
ihnen schaukeln ließ in muthwillig phantastischem Spiel, ohne den Muth, ihrem
Zuge irgend eine Mstgcwollte Richtung abzugewinnen, so trieben sie mit dein
Ausdruck der Ideen ein willkürliches Spiel, welches mehr unterhaltend als för¬
dernd war. Uns Deutsche, die wir in unserer Sprache an eine Willkür gewohnt
sind, die ihres Gleichen nicht kennt, beleidigt die Disciplin des modernen fran¬
zösischen Ausdrucks, und nur wenden uns gern zu jenen altem Schriftstellern zu¬
rück, in denen wir unsern eignen Reichthum und unsere Anarchie wiederfinden:
griechische, lateinische Constructionen, das Patois aller möglichen Landschaften,
veraltete Wendungen, Ausdrücke des Metiers nud transcendentale Anflüge in
reizender Vereinigung durcheinander. Wir fühlen uns so Jean Paul als möglich.
Es kommt noch das persönliche Interesse dazu, daß wir uns in der Schule bei
Racine und Lafontaine anf eine unbillige Weise gelangweilt haben.

Und doch kann nur eine einseitige Bildung verkennen, daß die echt französi¬
sche Literatur, wie sie von Malherbe vorbereitet, vou Descartes mit einer wun¬
derbaren Energie befestigt, durch die französische Akademie mit ängstlicher Gewis¬
senhaftigkeit im Detail ausgearbeitet, durch deu Dichterverein, der sich um Boileau
gruppirte -- Racine, Mvliore, Lafontaine -- zu einer klassischen Form geadelt,
endlich dnrch die Encyklopädisten zum Gemeingut der Nation gemacht worden
ist -- daß diese Literatur, der echte Ausdruck des französischen Charakters, ein
wesentliches Moment für die Entwicklung des menschlichen Geistes gewesen ist.
Die strenge Disciplin des französischen Denkens, der unbedingte Eultus der Form,
hat Europa vor der vollständigen Anarchie bewahrt, aus der die großen germa¬
nischen Dichter und Denker es nicht würden befreit haben.

Diese große Disciplin des 17. Jahrhunderts, eifriger bemüht, in jedem
Einzelnen die allgemeine Vernunft auszubilden, als die individuelle Laune und
Stimmung zu ermuthigen , zwang durch ihr stetes Mißtrauen gegen die Freiheit
den Dichter und Denker eine Auswahl zu treffen in seinen Ideen und Anschauun¬
gen; sie beugte deu Uebermuth des Genies unter die Regel und gewöhnte es
an Zweckthätigkeit -- was unsere Fauste und ihre sentimentalen Verehrer freilich
nicht ertragen hätten; sie unterwarf die Bilder der Herrschaft des Gedankens, die
Lust des Empfindens, des Zweifels dem Gesetz, die Phantasie der Ordnung; sie
schuf jene Sprache, die im Geist der erbeten Wissenschaften gedacht ist, die zu
ihrem Ziel auf dem geraden, dem kürzesten Wege forteilt, in der die Worte sich
von vornherein in logischer Reihe ordnen; sie machte die Worte zu Münzen von
bestimmtem Gehalt -- was bei uns, wo zum Studium jedes einzelnen Philosophen


Sprache und Vorstellung Alles, für den Geschmack Nichts gethan. Das bekannte
Motto des Sceptikers Montaigne: (tue «-»is-jo? kann mau eben so auf die Form
wie auf den Inhalt beziehn; wie er sich in den Wogen der von den verschieden¬
sten Seiten her einströmenden philosophischen Ideen scherzend badete, sich von
ihnen schaukeln ließ in muthwillig phantastischem Spiel, ohne den Muth, ihrem
Zuge irgend eine Mstgcwollte Richtung abzugewinnen, so trieben sie mit dein
Ausdruck der Ideen ein willkürliches Spiel, welches mehr unterhaltend als för¬
dernd war. Uns Deutsche, die wir in unserer Sprache an eine Willkür gewohnt
sind, die ihres Gleichen nicht kennt, beleidigt die Disciplin des modernen fran¬
zösischen Ausdrucks, und nur wenden uns gern zu jenen altem Schriftstellern zu¬
rück, in denen wir unsern eignen Reichthum und unsere Anarchie wiederfinden:
griechische, lateinische Constructionen, das Patois aller möglichen Landschaften,
veraltete Wendungen, Ausdrücke des Metiers nud transcendentale Anflüge in
reizender Vereinigung durcheinander. Wir fühlen uns so Jean Paul als möglich.
Es kommt noch das persönliche Interesse dazu, daß wir uns in der Schule bei
Racine und Lafontaine anf eine unbillige Weise gelangweilt haben.

Und doch kann nur eine einseitige Bildung verkennen, daß die echt französi¬
sche Literatur, wie sie von Malherbe vorbereitet, vou Descartes mit einer wun¬
derbaren Energie befestigt, durch die französische Akademie mit ängstlicher Gewis¬
senhaftigkeit im Detail ausgearbeitet, durch deu Dichterverein, der sich um Boileau
gruppirte — Racine, Mvliore, Lafontaine — zu einer klassischen Form geadelt,
endlich dnrch die Encyklopädisten zum Gemeingut der Nation gemacht worden
ist — daß diese Literatur, der echte Ausdruck des französischen Charakters, ein
wesentliches Moment für die Entwicklung des menschlichen Geistes gewesen ist.
Die strenge Disciplin des französischen Denkens, der unbedingte Eultus der Form,
hat Europa vor der vollständigen Anarchie bewahrt, aus der die großen germa¬
nischen Dichter und Denker es nicht würden befreit haben.

Diese große Disciplin des 17. Jahrhunderts, eifriger bemüht, in jedem
Einzelnen die allgemeine Vernunft auszubilden, als die individuelle Laune und
Stimmung zu ermuthigen , zwang durch ihr stetes Mißtrauen gegen die Freiheit
den Dichter und Denker eine Auswahl zu treffen in seinen Ideen und Anschauun¬
gen; sie beugte deu Uebermuth des Genies unter die Regel und gewöhnte es
an Zweckthätigkeit — was unsere Fauste und ihre sentimentalen Verehrer freilich
nicht ertragen hätten; sie unterwarf die Bilder der Herrschaft des Gedankens, die
Lust des Empfindens, des Zweifels dem Gesetz, die Phantasie der Ordnung; sie
schuf jene Sprache, die im Geist der erbeten Wissenschaften gedacht ist, die zu
ihrem Ziel auf dem geraden, dem kürzesten Wege forteilt, in der die Worte sich
von vornherein in logischer Reihe ordnen; sie machte die Worte zu Münzen von
bestimmtem Gehalt — was bei uns, wo zum Studium jedes einzelnen Philosophen


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[0421] Sprache und Vorstellung Alles, für den Geschmack Nichts gethan. Das bekannte Motto des Sceptikers Montaigne: (tue «-»is-jo? kann mau eben so auf die Form wie auf den Inhalt beziehn; wie er sich in den Wogen der von den verschieden¬ sten Seiten her einströmenden philosophischen Ideen scherzend badete, sich von ihnen schaukeln ließ in muthwillig phantastischem Spiel, ohne den Muth, ihrem Zuge irgend eine Mstgcwollte Richtung abzugewinnen, so trieben sie mit dein Ausdruck der Ideen ein willkürliches Spiel, welches mehr unterhaltend als för¬ dernd war. Uns Deutsche, die wir in unserer Sprache an eine Willkür gewohnt sind, die ihres Gleichen nicht kennt, beleidigt die Disciplin des modernen fran¬ zösischen Ausdrucks, und nur wenden uns gern zu jenen altem Schriftstellern zu¬ rück, in denen wir unsern eignen Reichthum und unsere Anarchie wiederfinden: griechische, lateinische Constructionen, das Patois aller möglichen Landschaften, veraltete Wendungen, Ausdrücke des Metiers nud transcendentale Anflüge in reizender Vereinigung durcheinander. Wir fühlen uns so Jean Paul als möglich. Es kommt noch das persönliche Interesse dazu, daß wir uns in der Schule bei Racine und Lafontaine anf eine unbillige Weise gelangweilt haben. Und doch kann nur eine einseitige Bildung verkennen, daß die echt französi¬ sche Literatur, wie sie von Malherbe vorbereitet, vou Descartes mit einer wun¬ derbaren Energie befestigt, durch die französische Akademie mit ängstlicher Gewis¬ senhaftigkeit im Detail ausgearbeitet, durch deu Dichterverein, der sich um Boileau gruppirte — Racine, Mvliore, Lafontaine — zu einer klassischen Form geadelt, endlich dnrch die Encyklopädisten zum Gemeingut der Nation gemacht worden ist — daß diese Literatur, der echte Ausdruck des französischen Charakters, ein wesentliches Moment für die Entwicklung des menschlichen Geistes gewesen ist. Die strenge Disciplin des französischen Denkens, der unbedingte Eultus der Form, hat Europa vor der vollständigen Anarchie bewahrt, aus der die großen germa¬ nischen Dichter und Denker es nicht würden befreit haben. Diese große Disciplin des 17. Jahrhunderts, eifriger bemüht, in jedem Einzelnen die allgemeine Vernunft auszubilden, als die individuelle Laune und Stimmung zu ermuthigen , zwang durch ihr stetes Mißtrauen gegen die Freiheit den Dichter und Denker eine Auswahl zu treffen in seinen Ideen und Anschauun¬ gen; sie beugte deu Uebermuth des Genies unter die Regel und gewöhnte es an Zweckthätigkeit — was unsere Fauste und ihre sentimentalen Verehrer freilich nicht ertragen hätten; sie unterwarf die Bilder der Herrschaft des Gedankens, die Lust des Empfindens, des Zweifels dem Gesetz, die Phantasie der Ordnung; sie schuf jene Sprache, die im Geist der erbeten Wissenschaften gedacht ist, die zu ihrem Ziel auf dem geraden, dem kürzesten Wege forteilt, in der die Worte sich von vornherein in logischer Reihe ordnen; sie machte die Worte zu Münzen von bestimmtem Gehalt — was bei uns, wo zum Studium jedes einzelnen Philosophen

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 8, 1849, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341563_279547/421>, abgerufen am 15.01.2025.