Die Grenzboten. Jg. 8, 1849, II. Semester. IV. Band.Pierrots schiefes Maul und die Kreide auf seiner fratzenhaften Maske. Weiter Die Fäden, welche diese Reihe mißgestalter Figuren aneinanderketten, sind So roh, halbwahr und abstrakt diese Auffassung ist, wenn wir sie vom ge¬ Pierrots schiefes Maul und die Kreide auf seiner fratzenhaften Maske. Weiter Die Fäden, welche diese Reihe mißgestalter Figuren aneinanderketten, sind So roh, halbwahr und abstrakt diese Auffassung ist, wenn wir sie vom ge¬ <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <pb facs="#f0409" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/279957"/> <p xml:id="ID_1440" prev="#ID_1439"> Pierrots schiefes Maul und die Kreide auf seiner fratzenhaften Maske. Weiter<lb/> hinauf wird an Stelle der physischen die moralische Häßlichkeit substituirt, und<lb/> wir sollen in der Buhlen» die reine Liebe (Mar ion de L or me 182!), Angelo<lb/> l8!Zi>), in dein Scheusal aller Zeiten, Lucrezia Borgia (1883) die mütterliche<lb/> Zärtlichkeit ehren; oder wir sollen den Wahnsinn der Leidenschaft als solchen an¬<lb/> erkennen (Marie Tudor 1833). Im Ruy Blas (!8:;u) ist es die äußere Stellung,<lb/> die den Contrast hergibt; ein Lakai verliebt sich in eine Königin, und das Schick¬<lb/> sal besteht in den verschiedenen Combinationen dieses lächerlichen Verhältnisses.<lb/> Zuletzt in den Burgrav eS (l842) sind es lauter hundertjährige Greise, die sich<lb/> leidenschaftlich bewegen, und in tragische Verwickelungen gerathen sollen.</p><lb/> <p xml:id="ID_1441"> Die Fäden, welche diese Reihe mißgestalter Figuren aneinanderketten, sind<lb/> zu handgreiflich, als daß man nicht eine tiefere Absicht dahinter suchen sollte.<lb/> Zum Ueberfluß hat Victor Hugo fast jede seiner Schöpfungen mit einer Vorrede<lb/> versehen, in der er seine dichterischen Einfälle zu einer Doctrin abrundet. Am<lb/> ausführlichsten spricht sich die Vorrede zu Cromwell (1827) über diesen Geist<lb/> der Antithese aus. Den sittlichen Grundbegriff lasse ich hier bei Seite, weil ich<lb/> bei Besprechung der Dramen darauf zurückkommen muß, und halte mich hier nur<lb/> an den ästhetischen. Victor Hugo sucht den Kern der modernen, bestimmter<lb/> christlichen Kunst im Grotesken. Im Alterthum habe sich dasselbe nur schüch¬<lb/> tern an's Tageslicht gewagt, es habe stets gesucht, sich zu verstecken, weil es sich<lb/> nie auf seinem Terrain fühlte. Erst das Mittelalter habe an Stelle der etwas<lb/> banalen Hydra die eigenthümlichen, localen und im Detail ausgeführten Dra¬<lb/> chen, Zwerge, Niesen, Elfen, Gnomen, Kobolde, Feen, Hexen, Gespenster u.<lb/> s. w. gesetzt. Das Schone der Alten sei typisch, und darum etwas monoton<lb/> und langweilig gewesen. Das Christenthum habe die Poesie zur Wahrheit zurück¬<lb/> geführt, es habe den Menschen darauf aufmerksam gemacht, daß sein menschli¬<lb/> cher Begriff von Schönheit nicht ausreichen könne; daß es eine Vermessenheit<lb/> wäre von der eingeschränkten und bedingten Vernunft des Künstlers, ihren Ma߬<lb/> stab an die unendliche und unbedingte Vernunft des Schöpfers zu legen, Gott<lb/> gleichsam rectificiren zu wollen, daß die poetische Harmonie nichts weiter sei<lb/> als Unvollständigkeit; daß, was wir häßlich nennen, nur das Detail eines großen<lb/> Ganzen sei, dessen Zusammenhang uns entgehe, und das seine Ergänzung fände,<lb/> nicht in der menschlichen Vernunft, sondern in dem ttuiversnm — also wie wir<lb/> uns bestimmter ausdrücken würden, in der vernunftlosen Materie.</p><lb/> <p xml:id="ID_1442" next="#ID_1443"> So roh, halbwahr und abstrakt diese Auffassung ist, wenn wir sie vom ge¬<lb/> schichtlichen oder philosophischen Standpunkt betrachten, so bezeichnend ist sie für<lb/> unsern Dichter. Was er Alterthum nennt, ist nicht das Griechische, von dem er<lb/> nichts versteht, weil er eS nie studirt hat und ans das also auch keine seiner Be¬<lb/> zeichnungen paßt, sondern die altfranzösische Klassicität. In dieser war freilich das<lb/> Schöne, das Gute, das Edle typisch, conventionell, aus fertigen Regeln ent-</p><lb/> </div> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0409]
Pierrots schiefes Maul und die Kreide auf seiner fratzenhaften Maske. Weiter
hinauf wird an Stelle der physischen die moralische Häßlichkeit substituirt, und
wir sollen in der Buhlen» die reine Liebe (Mar ion de L or me 182!), Angelo
l8!Zi>), in dein Scheusal aller Zeiten, Lucrezia Borgia (1883) die mütterliche
Zärtlichkeit ehren; oder wir sollen den Wahnsinn der Leidenschaft als solchen an¬
erkennen (Marie Tudor 1833). Im Ruy Blas (!8:;u) ist es die äußere Stellung,
die den Contrast hergibt; ein Lakai verliebt sich in eine Königin, und das Schick¬
sal besteht in den verschiedenen Combinationen dieses lächerlichen Verhältnisses.
Zuletzt in den Burgrav eS (l842) sind es lauter hundertjährige Greise, die sich
leidenschaftlich bewegen, und in tragische Verwickelungen gerathen sollen.
Die Fäden, welche diese Reihe mißgestalter Figuren aneinanderketten, sind
zu handgreiflich, als daß man nicht eine tiefere Absicht dahinter suchen sollte.
Zum Ueberfluß hat Victor Hugo fast jede seiner Schöpfungen mit einer Vorrede
versehen, in der er seine dichterischen Einfälle zu einer Doctrin abrundet. Am
ausführlichsten spricht sich die Vorrede zu Cromwell (1827) über diesen Geist
der Antithese aus. Den sittlichen Grundbegriff lasse ich hier bei Seite, weil ich
bei Besprechung der Dramen darauf zurückkommen muß, und halte mich hier nur
an den ästhetischen. Victor Hugo sucht den Kern der modernen, bestimmter
christlichen Kunst im Grotesken. Im Alterthum habe sich dasselbe nur schüch¬
tern an's Tageslicht gewagt, es habe stets gesucht, sich zu verstecken, weil es sich
nie auf seinem Terrain fühlte. Erst das Mittelalter habe an Stelle der etwas
banalen Hydra die eigenthümlichen, localen und im Detail ausgeführten Dra¬
chen, Zwerge, Niesen, Elfen, Gnomen, Kobolde, Feen, Hexen, Gespenster u.
s. w. gesetzt. Das Schone der Alten sei typisch, und darum etwas monoton
und langweilig gewesen. Das Christenthum habe die Poesie zur Wahrheit zurück¬
geführt, es habe den Menschen darauf aufmerksam gemacht, daß sein menschli¬
cher Begriff von Schönheit nicht ausreichen könne; daß es eine Vermessenheit
wäre von der eingeschränkten und bedingten Vernunft des Künstlers, ihren Ma߬
stab an die unendliche und unbedingte Vernunft des Schöpfers zu legen, Gott
gleichsam rectificiren zu wollen, daß die poetische Harmonie nichts weiter sei
als Unvollständigkeit; daß, was wir häßlich nennen, nur das Detail eines großen
Ganzen sei, dessen Zusammenhang uns entgehe, und das seine Ergänzung fände,
nicht in der menschlichen Vernunft, sondern in dem ttuiversnm — also wie wir
uns bestimmter ausdrücken würden, in der vernunftlosen Materie.
So roh, halbwahr und abstrakt diese Auffassung ist, wenn wir sie vom ge¬
schichtlichen oder philosophischen Standpunkt betrachten, so bezeichnend ist sie für
unsern Dichter. Was er Alterthum nennt, ist nicht das Griechische, von dem er
nichts versteht, weil er eS nie studirt hat und ans das also auch keine seiner Be¬
zeichnungen paßt, sondern die altfranzösische Klassicität. In dieser war freilich das
Schöne, das Gute, das Edle typisch, conventionell, aus fertigen Regeln ent-
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