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Die Grenzboten. Jg. 8, 1849, II. Semester. IV. Band.

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würgt!" Denselben Wunsch hörte ich auch hier wieder, er schien keine ungewöhn¬
liche Redensart des mütterlichen Schmerzes.

Die Mannschaft, welche zur Bewachung der Ausgehvbencn mitgeschickt wor¬
den, bestand aus Wirthschastsaufschcru und alten Bauern. Es läßt sich denken,
daß ihnen dieser Dienst sehr unangenehm war, und wohl Keiner befand sich unter
ihnen, der nicht gern den Militärpflichtiger hätte entspringen lassen. Allein die
schwerste Verantwortlichkeit lag auf ihnen. Von dem Augenblicke an, wo der Zug
abgefertigt war, hatten sie nämlich mit ihrer Person für die richtige Ablieferung
einzustehn. Die Verantwortlichkeit ruhte uicht mehr auf den Edelleuten, sondern
ans den Escortirendcn, wer sie auch sein mochte", und zwar solchermaßen, daß,
wäre ein Militärpflichtiger entsprungen, der jüngste und brauchbarste von den
Wächtern, denen er übergeben war, für ihn hätte in das Heer eintreten müssen.
Dennoch kommen bisweilen Entweichnngen vor, wegen einer, von welcher ich er¬
fuhr, mußte ein fünf und vierzig Jahr alter Bauer der Escorte noch Soldat
werden.

Ich fuhr mit dem .Grafen nach I., wo die Ausgehvbenen einem Trupp
Gcnöd'armen übergeben und durch diesen nach der Obwvdschaftsstadt escortirt
wurde". Hier war der Sammelplatz aller Ansgchobene" sämmtlicher Woyt-Ge¬
meinschaften der Obwodschaft. Erst am anderen Tage versammelte sich dort die Ne-
krntirnngscommissiv", bei welcher ich alle Personen wiedersah, welche ich bei der
Conscription kennen gelernt hatte. Der Graf hatte als Vorsteher eines Amtskrci-
ses einen Sitz bei der Commission. Die Militärpflichtiger, welche seit dem vori¬
gen Tage in einem anstoßenden mit Gcnsd'armen besetzten Hause gefangen gehal¬
ten worden waren, wurden nun nach dem Amrsdistricte truppweise vor die Com¬
mission geführt, da nochmals unter das Maß gestellt und in die Hecrlisten einge¬
zeichnet. Ehe dies aber geschah, waren noch Einsprüche gestattet. Es traten da¬
her Bauern, welche ihre aufgehobenen Söhne zu ihren Vormündern erwählt hat¬
ten, Frauen mit Kindern, deren Gatten und Väter unter den Ausgehvbenen sich
befanden, und andere Personen ans den Schauplatz; und charakteristische Scenen
seltsamer Art mögen bei diesem Acte vorgekommen sein, dem ich leider nicht bei¬
wohnen durfte.

Diejenigen jungen Leute, welche das traurige Bewußtsein behielten, russische
Rekruten zu sei", wurden unter Bedeckung in den leeren Pferdestall des anstoßen-
de" Kasernengebäudes gebracht und da von einigen Jnfanterieunterofsizieren ihrer
Haare so beraubt, daß sie vollkommen türkischen Galeerensklaven glichen. Auch
diese Maßregel fand statt, um ihr Entweichen zu verhindern und das Einfangen
der Geflüchteten zu erleichter". Ein Mensch, dessen Kopf völlig kahl geschoren
ist, wird in Nußland, wo von den niedrigen Klassen die Haare lang getragen wer¬
den, allerdings leicht erkannt.

Einige Tage darauf traten die Rekruten ihre Wanderung nach dem Orte ih-


würgt!" Denselben Wunsch hörte ich auch hier wieder, er schien keine ungewöhn¬
liche Redensart des mütterlichen Schmerzes.

Die Mannschaft, welche zur Bewachung der Ausgehvbencn mitgeschickt wor¬
den, bestand aus Wirthschastsaufschcru und alten Bauern. Es läßt sich denken,
daß ihnen dieser Dienst sehr unangenehm war, und wohl Keiner befand sich unter
ihnen, der nicht gern den Militärpflichtiger hätte entspringen lassen. Allein die
schwerste Verantwortlichkeit lag auf ihnen. Von dem Augenblicke an, wo der Zug
abgefertigt war, hatten sie nämlich mit ihrer Person für die richtige Ablieferung
einzustehn. Die Verantwortlichkeit ruhte uicht mehr auf den Edelleuten, sondern
ans den Escortirendcn, wer sie auch sein mochte», und zwar solchermaßen, daß,
wäre ein Militärpflichtiger entsprungen, der jüngste und brauchbarste von den
Wächtern, denen er übergeben war, für ihn hätte in das Heer eintreten müssen.
Dennoch kommen bisweilen Entweichnngen vor, wegen einer, von welcher ich er¬
fuhr, mußte ein fünf und vierzig Jahr alter Bauer der Escorte noch Soldat
werden.

Ich fuhr mit dem .Grafen nach I., wo die Ausgehvbenen einem Trupp
Gcnöd'armen übergeben und durch diesen nach der Obwvdschaftsstadt escortirt
wurde». Hier war der Sammelplatz aller Ansgchobene» sämmtlicher Woyt-Ge¬
meinschaften der Obwodschaft. Erst am anderen Tage versammelte sich dort die Ne-
krntirnngscommissiv», bei welcher ich alle Personen wiedersah, welche ich bei der
Conscription kennen gelernt hatte. Der Graf hatte als Vorsteher eines Amtskrci-
ses einen Sitz bei der Commission. Die Militärpflichtiger, welche seit dem vori¬
gen Tage in einem anstoßenden mit Gcnsd'armen besetzten Hause gefangen gehal¬
ten worden waren, wurden nun nach dem Amrsdistricte truppweise vor die Com¬
mission geführt, da nochmals unter das Maß gestellt und in die Hecrlisten einge¬
zeichnet. Ehe dies aber geschah, waren noch Einsprüche gestattet. Es traten da¬
her Bauern, welche ihre aufgehobenen Söhne zu ihren Vormündern erwählt hat¬
ten, Frauen mit Kindern, deren Gatten und Väter unter den Ausgehvbenen sich
befanden, und andere Personen ans den Schauplatz; und charakteristische Scenen
seltsamer Art mögen bei diesem Acte vorgekommen sein, dem ich leider nicht bei¬
wohnen durfte.

Diejenigen jungen Leute, welche das traurige Bewußtsein behielten, russische
Rekruten zu sei», wurden unter Bedeckung in den leeren Pferdestall des anstoßen-
de» Kasernengebäudes gebracht und da von einigen Jnfanterieunterofsizieren ihrer
Haare so beraubt, daß sie vollkommen türkischen Galeerensklaven glichen. Auch
diese Maßregel fand statt, um ihr Entweichen zu verhindern und das Einfangen
der Geflüchteten zu erleichter». Ein Mensch, dessen Kopf völlig kahl geschoren
ist, wird in Nußland, wo von den niedrigen Klassen die Haare lang getragen wer¬
den, allerdings leicht erkannt.

Einige Tage darauf traten die Rekruten ihre Wanderung nach dem Orte ih-


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[0301] würgt!" Denselben Wunsch hörte ich auch hier wieder, er schien keine ungewöhn¬ liche Redensart des mütterlichen Schmerzes. Die Mannschaft, welche zur Bewachung der Ausgehvbencn mitgeschickt wor¬ den, bestand aus Wirthschastsaufschcru und alten Bauern. Es läßt sich denken, daß ihnen dieser Dienst sehr unangenehm war, und wohl Keiner befand sich unter ihnen, der nicht gern den Militärpflichtiger hätte entspringen lassen. Allein die schwerste Verantwortlichkeit lag auf ihnen. Von dem Augenblicke an, wo der Zug abgefertigt war, hatten sie nämlich mit ihrer Person für die richtige Ablieferung einzustehn. Die Verantwortlichkeit ruhte uicht mehr auf den Edelleuten, sondern ans den Escortirendcn, wer sie auch sein mochte», und zwar solchermaßen, daß, wäre ein Militärpflichtiger entsprungen, der jüngste und brauchbarste von den Wächtern, denen er übergeben war, für ihn hätte in das Heer eintreten müssen. Dennoch kommen bisweilen Entweichnngen vor, wegen einer, von welcher ich er¬ fuhr, mußte ein fünf und vierzig Jahr alter Bauer der Escorte noch Soldat werden. Ich fuhr mit dem .Grafen nach I., wo die Ausgehvbenen einem Trupp Gcnöd'armen übergeben und durch diesen nach der Obwvdschaftsstadt escortirt wurde». Hier war der Sammelplatz aller Ansgchobene» sämmtlicher Woyt-Ge¬ meinschaften der Obwodschaft. Erst am anderen Tage versammelte sich dort die Ne- krntirnngscommissiv», bei welcher ich alle Personen wiedersah, welche ich bei der Conscription kennen gelernt hatte. Der Graf hatte als Vorsteher eines Amtskrci- ses einen Sitz bei der Commission. Die Militärpflichtiger, welche seit dem vori¬ gen Tage in einem anstoßenden mit Gcnsd'armen besetzten Hause gefangen gehal¬ ten worden waren, wurden nun nach dem Amrsdistricte truppweise vor die Com¬ mission geführt, da nochmals unter das Maß gestellt und in die Hecrlisten einge¬ zeichnet. Ehe dies aber geschah, waren noch Einsprüche gestattet. Es traten da¬ her Bauern, welche ihre aufgehobenen Söhne zu ihren Vormündern erwählt hat¬ ten, Frauen mit Kindern, deren Gatten und Väter unter den Ausgehvbenen sich befanden, und andere Personen ans den Schauplatz; und charakteristische Scenen seltsamer Art mögen bei diesem Acte vorgekommen sein, dem ich leider nicht bei¬ wohnen durfte. Diejenigen jungen Leute, welche das traurige Bewußtsein behielten, russische Rekruten zu sei», wurden unter Bedeckung in den leeren Pferdestall des anstoßen- de» Kasernengebäudes gebracht und da von einigen Jnfanterieunterofsizieren ihrer Haare so beraubt, daß sie vollkommen türkischen Galeerensklaven glichen. Auch diese Maßregel fand statt, um ihr Entweichen zu verhindern und das Einfangen der Geflüchteten zu erleichter». Ein Mensch, dessen Kopf völlig kahl geschoren ist, wird in Nußland, wo von den niedrigen Klassen die Haare lang getragen wer¬ den, allerdings leicht erkannt. Einige Tage darauf traten die Rekruten ihre Wanderung nach dem Orte ih-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 8, 1849, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341563_279547/301>, abgerufen am 15.01.2025.