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Die Grenzboten. Jg. 8, 1849, II. Semester. IV. Band.

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bildet, so heftet sich sein Gemüth coutemplativ an jeden Gegenstand, in dem er
diese Natur als harmonische Erscheinung empfindet, die er in sich selbst nur als
unruhige, nervöse Sehnsucht trägt. Daher seine vermeintliche Leidenschaft für
Lotten, der Drang eines Unbeschäftigten und vielfach Bewegten, sich zu concentriren;
eine Passion, in der er sich ähnlich benimmt, wie der alte Ritter-Toggenburg,
der sich eine Hütte baut, um seinen Schatz täglich eine halbe Stunde dnrch's Fen¬
ster betrachten zu können, und in dieser interessanten Beschäftigung seine Tage sanft
und selig beschließt, nur daß Werther ungeduldiger ist, und zur Pistole greift,
vielleicht mit der ganz geheimen Nebenempfindnng, sie könne ihm doch von schö¬
nen Händen mit sanfter Gewalt entwunden werden.

Lessing hat bekanntlich gewünscht, Goethe möchte noch eine" recht cynischen
Nachtrag geliefert haben, um nicht deu Schein zu errege", als halte er selber
dieses Bild voll psychologischer und poetischer Wahrheit sür ein Ideal. Er ist
darin mißverstanden worden, wie es ihm überhaupt häufig ergangen ist, weil er
trotz aller Schärfe seines Denkens zu sehr in der transcendentalen Philosophie seiner
Zeit befangen war, um in concreter Lebendigkeit anzuschauen, was nur die Ab-
straction getrennt hatte.") Erst in sentimentalen Thränen zu schwelgen, und dann
in eben so stofflosem Cynismus sich selbst zu ironisiren, das ist keine Befrei¬
ung ovo der Krankheit des Empfindclns, es ist eine neue Verschrobenheit. Die
Kälte der Ironie muß mit der Gluth der Empfindung zusammengehn, um sie zu
gestalten, mau muß die endlichen Seiten des idealen Strebens nicht nur erkennen,
man muß sie ertragen lernen, um sich frei ihm hingeben zu dürfen; man muß
glauben köancn im Wissen; man muß eine große That in ihre kleinen Motive
aufzulösen verstehn, ohne darüber ihre Totalität aus deu Augen zu verlieren.
Die Güte des Herzens ist eine Illusion, wenn nicht Kälte des Verstandes und
Härte des Charakters dazu kommt. Sie ist bloße Reizbarkeit, die für jeden
Widerstand ihre Spannkraft verliert, wie Werther der Convenienz der vornehmen
Gesellschaft gegenüber, die er weder zu reformiren, noch sich darüber zu erheben
die Kraft hat. Werther mußte seine Stellung von ihrer endlichen, also komischen
Seite anschauen, dann wäre er -- freilich nicht mehr er selbst gewesen. Das Ge¬
dicht verliert durch diese Kritik Nichts von seiner Berechtigung; der Werther des
Romans konnte nichts besseres thun, als sich todtschießen.

Diese Freiheit von der unbedingten Gewalt der Empfindung wird durch den
Kampf mit dem Leben errungen, und insofern hat die Blasirtheit, als natürliche Re¬
action gegen den inhaltlosen Idealismus, als Uebergangsperiode ihre Berechtigung.
Der richtige Weg von der falschem zur wahren Idealität ist der bewußte Egoismus;
es kommt nur darauf an, daß dieser Frost nicht in einer Zeit eintritt, wo die
Keime des Guten darunter leide"; es kommt darauf an, daß die Ironie sich klar



*) Ich beabsichtige, auf diese Seit- in Lessing noch einmal zurückzukommen.

bildet, so heftet sich sein Gemüth coutemplativ an jeden Gegenstand, in dem er
diese Natur als harmonische Erscheinung empfindet, die er in sich selbst nur als
unruhige, nervöse Sehnsucht trägt. Daher seine vermeintliche Leidenschaft für
Lotten, der Drang eines Unbeschäftigten und vielfach Bewegten, sich zu concentriren;
eine Passion, in der er sich ähnlich benimmt, wie der alte Ritter-Toggenburg,
der sich eine Hütte baut, um seinen Schatz täglich eine halbe Stunde dnrch's Fen¬
ster betrachten zu können, und in dieser interessanten Beschäftigung seine Tage sanft
und selig beschließt, nur daß Werther ungeduldiger ist, und zur Pistole greift,
vielleicht mit der ganz geheimen Nebenempfindnng, sie könne ihm doch von schö¬
nen Händen mit sanfter Gewalt entwunden werden.

Lessing hat bekanntlich gewünscht, Goethe möchte noch eine» recht cynischen
Nachtrag geliefert haben, um nicht deu Schein zu errege«, als halte er selber
dieses Bild voll psychologischer und poetischer Wahrheit sür ein Ideal. Er ist
darin mißverstanden worden, wie es ihm überhaupt häufig ergangen ist, weil er
trotz aller Schärfe seines Denkens zu sehr in der transcendentalen Philosophie seiner
Zeit befangen war, um in concreter Lebendigkeit anzuschauen, was nur die Ab-
straction getrennt hatte.") Erst in sentimentalen Thränen zu schwelgen, und dann
in eben so stofflosem Cynismus sich selbst zu ironisiren, das ist keine Befrei¬
ung ovo der Krankheit des Empfindclns, es ist eine neue Verschrobenheit. Die
Kälte der Ironie muß mit der Gluth der Empfindung zusammengehn, um sie zu
gestalten, mau muß die endlichen Seiten des idealen Strebens nicht nur erkennen,
man muß sie ertragen lernen, um sich frei ihm hingeben zu dürfen; man muß
glauben köancn im Wissen; man muß eine große That in ihre kleinen Motive
aufzulösen verstehn, ohne darüber ihre Totalität aus deu Augen zu verlieren.
Die Güte des Herzens ist eine Illusion, wenn nicht Kälte des Verstandes und
Härte des Charakters dazu kommt. Sie ist bloße Reizbarkeit, die für jeden
Widerstand ihre Spannkraft verliert, wie Werther der Convenienz der vornehmen
Gesellschaft gegenüber, die er weder zu reformiren, noch sich darüber zu erheben
die Kraft hat. Werther mußte seine Stellung von ihrer endlichen, also komischen
Seite anschauen, dann wäre er — freilich nicht mehr er selbst gewesen. Das Ge¬
dicht verliert durch diese Kritik Nichts von seiner Berechtigung; der Werther des
Romans konnte nichts besseres thun, als sich todtschießen.

Diese Freiheit von der unbedingten Gewalt der Empfindung wird durch den
Kampf mit dem Leben errungen, und insofern hat die Blasirtheit, als natürliche Re¬
action gegen den inhaltlosen Idealismus, als Uebergangsperiode ihre Berechtigung.
Der richtige Weg von der falschem zur wahren Idealität ist der bewußte Egoismus;
es kommt nur darauf an, daß dieser Frost nicht in einer Zeit eintritt, wo die
Keime des Guten darunter leide»; es kommt darauf an, daß die Ironie sich klar



*) Ich beabsichtige, auf diese Seit- in Lessing noch einmal zurückzukommen.
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 8, 1849, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341563_279547/260>, abgerufen am 15.01.2025.