Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 8, 1849, II. Semester. III. Band.

Bild:
<< vorherige Seite

des Stoffes noch nicht detaillirt genug, ihn lockte aber der romantische Effekt der
Traumscene, er arbeitete sie sich durch. Während der spätern Ausführung wurde
ihm Klärchen in den Scenen mit der Mutter, Brackenburg und Egmont eine an¬
dere, sie nahm mehr von der Natur des Dichters an und wurde gesünder und
robuster, als die ursprüngliche Anlage. -- Im Allgemeinen gilt für die Katastrophe
der Satz, je mächtiger der Höhenpunkt des Stückes hervorgetrieben ist, und je
stärker die Reaction des 4ten und 5ten Aktes gegen die im Anfang eingeschlagene
Richtung ist, desto leichter wird die Katastrophe; je geringer die dramatische Kraft,
die Dynamis des Dichters in der Mitte des Stückes ist, desto mehr wird er am
Ende raffiniren und Effecte hervorsuchen. Shakesspeare thut das letztere in seinen
regulären Stücken gar nicht. Leicht, kurz, wie nachlässig wirft er die Katastrophe
hin, ohne dabei durch neue Effekte zu überraschen, sie ist ihm so nothwendige
Folge des gestimmten Stückes und der Meister ist so sicher, seine Hörer mit sich
fortzureißen, daß er über die Nothwendigkeiten des Schlusses fast eilt. Der ge¬
niale Mann empfand sehr richtig, daß die Katastrophe dem Publikum in der Haupt¬
sache nicht überraschend kommen dürfe, ja daß es nöthig sei, bei guter Zeit die
Stimmung dafür vorzubereiten; deshalb erscheint dem Brutus Cäsars Geist, des¬
halb sagt Edmund dem Soldaten, er solle unter gewissen Verhältnissen Lear und
Cordelia tödten, so muß Romeo vor der Gruft Juliens noch den Paris er¬
schlagen, damit das Publicum, welches in dem Augenblick nicht mehr an Tybalts
Tod denkt, ja nicht die Hoffnung auskommen lasse, das Stück könne uoch gut en¬
digen, deshalb muß der tödtliche Neid des Aufidius gegen Coriolan sich schon vor
der großen Scene stark äußern und Coriolan die berühmten Worte sagen: Du
hast deinen Sohn verloren; deshalb hat der König mit Laertes die Ermordung
Hamlets durch ein vergiftetes Rappier vorher zu besprechen. Das bescheidene und
kunstvolle Mittel, welches er zuweilen gebraucht, um trotz der direkten Andeu-
tung des Schlusses doch noch zu spannen ist, daß er ein leichtes Hinderniß,
eine entfernte Möglichkeit glücklicher Lösung dem angedeuteten Gange der Kata¬
strophe später noch in den Weg wirst. Brutus muß erklären, daß er sich selbst
zu tödten für zu feig halte, der sterbende Edmund muß den Mordbefehl gegen Lear
widerrufen, Pater Lorenzo kann bis zum Augenblick, wo Julie sich tödtet, wie¬
der eintreten, selbst Coriolan kann von den Richtern noch freigesprochen werden;
Macbeth ist noch unverwundbar durch jeden, den ein Weib geboren, als schon
der grüne Wald gegen seine Burg heranzieht. Unsere Dichter gerathen nnr des¬
halb am Schluß auf die Sandbank, weil die dramatischen Charaktere, dnrch welche
sie den Schluß bestimmen lassen, fehlerhaft sind. Entweder sind sie ganz unwahr,
ein Gemenge von willkürlichen Einfällen, welche keine vernünftigen Konsequenzen
haben, wie im Werner, Otfried n. f. w. oder der Seelenproccß, welchen die Cha¬
raktere durchzumachen haben, wird mit großer geistiger Freiheit durchgemacht und
läuft auf nichts, als auf vermehrte Selbsterkenntniß und ein richtiges Verstehen


des Stoffes noch nicht detaillirt genug, ihn lockte aber der romantische Effekt der
Traumscene, er arbeitete sie sich durch. Während der spätern Ausführung wurde
ihm Klärchen in den Scenen mit der Mutter, Brackenburg und Egmont eine an¬
dere, sie nahm mehr von der Natur des Dichters an und wurde gesünder und
robuster, als die ursprüngliche Anlage. — Im Allgemeinen gilt für die Katastrophe
der Satz, je mächtiger der Höhenpunkt des Stückes hervorgetrieben ist, und je
stärker die Reaction des 4ten und 5ten Aktes gegen die im Anfang eingeschlagene
Richtung ist, desto leichter wird die Katastrophe; je geringer die dramatische Kraft,
die Dynamis des Dichters in der Mitte des Stückes ist, desto mehr wird er am
Ende raffiniren und Effecte hervorsuchen. Shakesspeare thut das letztere in seinen
regulären Stücken gar nicht. Leicht, kurz, wie nachlässig wirft er die Katastrophe
hin, ohne dabei durch neue Effekte zu überraschen, sie ist ihm so nothwendige
Folge des gestimmten Stückes und der Meister ist so sicher, seine Hörer mit sich
fortzureißen, daß er über die Nothwendigkeiten des Schlusses fast eilt. Der ge¬
niale Mann empfand sehr richtig, daß die Katastrophe dem Publikum in der Haupt¬
sache nicht überraschend kommen dürfe, ja daß es nöthig sei, bei guter Zeit die
Stimmung dafür vorzubereiten; deshalb erscheint dem Brutus Cäsars Geist, des¬
halb sagt Edmund dem Soldaten, er solle unter gewissen Verhältnissen Lear und
Cordelia tödten, so muß Romeo vor der Gruft Juliens noch den Paris er¬
schlagen, damit das Publicum, welches in dem Augenblick nicht mehr an Tybalts
Tod denkt, ja nicht die Hoffnung auskommen lasse, das Stück könne uoch gut en¬
digen, deshalb muß der tödtliche Neid des Aufidius gegen Coriolan sich schon vor
der großen Scene stark äußern und Coriolan die berühmten Worte sagen: Du
hast deinen Sohn verloren; deshalb hat der König mit Laertes die Ermordung
Hamlets durch ein vergiftetes Rappier vorher zu besprechen. Das bescheidene und
kunstvolle Mittel, welches er zuweilen gebraucht, um trotz der direkten Andeu-
tung des Schlusses doch noch zu spannen ist, daß er ein leichtes Hinderniß,
eine entfernte Möglichkeit glücklicher Lösung dem angedeuteten Gange der Kata¬
strophe später noch in den Weg wirst. Brutus muß erklären, daß er sich selbst
zu tödten für zu feig halte, der sterbende Edmund muß den Mordbefehl gegen Lear
widerrufen, Pater Lorenzo kann bis zum Augenblick, wo Julie sich tödtet, wie¬
der eintreten, selbst Coriolan kann von den Richtern noch freigesprochen werden;
Macbeth ist noch unverwundbar durch jeden, den ein Weib geboren, als schon
der grüne Wald gegen seine Burg heranzieht. Unsere Dichter gerathen nnr des¬
halb am Schluß auf die Sandbank, weil die dramatischen Charaktere, dnrch welche
sie den Schluß bestimmen lassen, fehlerhaft sind. Entweder sind sie ganz unwahr,
ein Gemenge von willkürlichen Einfällen, welche keine vernünftigen Konsequenzen
haben, wie im Werner, Otfried n. f. w. oder der Seelenproccß, welchen die Cha¬
raktere durchzumachen haben, wird mit großer geistiger Freiheit durchgemacht und
läuft auf nichts, als auf vermehrte Selbsterkenntniß und ein richtiges Verstehen


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0029" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/279055"/>
          <p xml:id="ID_51" prev="#ID_50" next="#ID_52"> des Stoffes noch nicht detaillirt genug, ihn lockte aber der romantische Effekt der<lb/>
Traumscene, er arbeitete sie sich durch. Während der spätern Ausführung wurde<lb/>
ihm Klärchen in den Scenen mit der Mutter, Brackenburg und Egmont eine an¬<lb/>
dere, sie nahm mehr von der Natur des Dichters an und wurde gesünder und<lb/>
robuster, als die ursprüngliche Anlage. &#x2014; Im Allgemeinen gilt für die Katastrophe<lb/>
der Satz, je mächtiger der Höhenpunkt des Stückes hervorgetrieben ist, und je<lb/>
stärker die Reaction des 4ten und 5ten Aktes gegen die im Anfang eingeschlagene<lb/>
Richtung ist, desto leichter wird die Katastrophe; je geringer die dramatische Kraft,<lb/>
die Dynamis des Dichters in der Mitte des Stückes ist, desto mehr wird er am<lb/>
Ende raffiniren und Effecte hervorsuchen. Shakesspeare thut das letztere in seinen<lb/>
regulären Stücken gar nicht. Leicht, kurz, wie nachlässig wirft er die Katastrophe<lb/>
hin, ohne dabei durch neue Effekte zu überraschen, sie ist ihm so nothwendige<lb/>
Folge des gestimmten Stückes und der Meister ist so sicher, seine Hörer mit sich<lb/>
fortzureißen, daß er über die Nothwendigkeiten des Schlusses fast eilt. Der ge¬<lb/>
niale Mann empfand sehr richtig, daß die Katastrophe dem Publikum in der Haupt¬<lb/>
sache nicht überraschend kommen dürfe, ja daß es nöthig sei, bei guter Zeit die<lb/>
Stimmung dafür vorzubereiten; deshalb erscheint dem Brutus Cäsars Geist, des¬<lb/>
halb sagt Edmund dem Soldaten, er solle unter gewissen Verhältnissen Lear und<lb/>
Cordelia tödten, so muß Romeo vor der Gruft Juliens noch den Paris er¬<lb/>
schlagen, damit das Publicum, welches in dem Augenblick nicht mehr an Tybalts<lb/>
Tod denkt, ja nicht die Hoffnung auskommen lasse, das Stück könne uoch gut en¬<lb/>
digen, deshalb muß der tödtliche Neid des Aufidius gegen Coriolan sich schon vor<lb/>
der großen Scene stark äußern und Coriolan die berühmten Worte sagen: Du<lb/>
hast deinen Sohn verloren; deshalb hat der König mit Laertes die Ermordung<lb/>
Hamlets durch ein vergiftetes Rappier vorher zu besprechen. Das bescheidene und<lb/>
kunstvolle Mittel, welches er zuweilen gebraucht, um trotz der direkten Andeu-<lb/>
tung des Schlusses doch noch zu spannen ist, daß er ein leichtes Hinderniß,<lb/>
eine entfernte Möglichkeit glücklicher Lösung dem angedeuteten Gange der Kata¬<lb/>
strophe später noch in den Weg wirst. Brutus muß erklären, daß er sich selbst<lb/>
zu tödten für zu feig halte, der sterbende Edmund muß den Mordbefehl gegen Lear<lb/>
widerrufen, Pater Lorenzo kann bis zum Augenblick, wo Julie sich tödtet, wie¬<lb/>
der eintreten, selbst Coriolan kann von den Richtern noch freigesprochen werden;<lb/>
Macbeth ist noch unverwundbar durch jeden, den ein Weib geboren, als schon<lb/>
der grüne Wald gegen seine Burg heranzieht. Unsere Dichter gerathen nnr des¬<lb/>
halb am Schluß auf die Sandbank, weil die dramatischen Charaktere, dnrch welche<lb/>
sie den Schluß bestimmen lassen, fehlerhaft sind. Entweder sind sie ganz unwahr,<lb/>
ein Gemenge von willkürlichen Einfällen, welche keine vernünftigen Konsequenzen<lb/>
haben, wie im Werner, Otfried n. f. w. oder der Seelenproccß, welchen die Cha¬<lb/>
raktere durchzumachen haben, wird mit großer geistiger Freiheit durchgemacht und<lb/>
läuft auf nichts, als auf vermehrte Selbsterkenntniß und ein richtiges Verstehen</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0029] des Stoffes noch nicht detaillirt genug, ihn lockte aber der romantische Effekt der Traumscene, er arbeitete sie sich durch. Während der spätern Ausführung wurde ihm Klärchen in den Scenen mit der Mutter, Brackenburg und Egmont eine an¬ dere, sie nahm mehr von der Natur des Dichters an und wurde gesünder und robuster, als die ursprüngliche Anlage. — Im Allgemeinen gilt für die Katastrophe der Satz, je mächtiger der Höhenpunkt des Stückes hervorgetrieben ist, und je stärker die Reaction des 4ten und 5ten Aktes gegen die im Anfang eingeschlagene Richtung ist, desto leichter wird die Katastrophe; je geringer die dramatische Kraft, die Dynamis des Dichters in der Mitte des Stückes ist, desto mehr wird er am Ende raffiniren und Effecte hervorsuchen. Shakesspeare thut das letztere in seinen regulären Stücken gar nicht. Leicht, kurz, wie nachlässig wirft er die Katastrophe hin, ohne dabei durch neue Effekte zu überraschen, sie ist ihm so nothwendige Folge des gestimmten Stückes und der Meister ist so sicher, seine Hörer mit sich fortzureißen, daß er über die Nothwendigkeiten des Schlusses fast eilt. Der ge¬ niale Mann empfand sehr richtig, daß die Katastrophe dem Publikum in der Haupt¬ sache nicht überraschend kommen dürfe, ja daß es nöthig sei, bei guter Zeit die Stimmung dafür vorzubereiten; deshalb erscheint dem Brutus Cäsars Geist, des¬ halb sagt Edmund dem Soldaten, er solle unter gewissen Verhältnissen Lear und Cordelia tödten, so muß Romeo vor der Gruft Juliens noch den Paris er¬ schlagen, damit das Publicum, welches in dem Augenblick nicht mehr an Tybalts Tod denkt, ja nicht die Hoffnung auskommen lasse, das Stück könne uoch gut en¬ digen, deshalb muß der tödtliche Neid des Aufidius gegen Coriolan sich schon vor der großen Scene stark äußern und Coriolan die berühmten Worte sagen: Du hast deinen Sohn verloren; deshalb hat der König mit Laertes die Ermordung Hamlets durch ein vergiftetes Rappier vorher zu besprechen. Das bescheidene und kunstvolle Mittel, welches er zuweilen gebraucht, um trotz der direkten Andeu- tung des Schlusses doch noch zu spannen ist, daß er ein leichtes Hinderniß, eine entfernte Möglichkeit glücklicher Lösung dem angedeuteten Gange der Kata¬ strophe später noch in den Weg wirst. Brutus muß erklären, daß er sich selbst zu tödten für zu feig halte, der sterbende Edmund muß den Mordbefehl gegen Lear widerrufen, Pater Lorenzo kann bis zum Augenblick, wo Julie sich tödtet, wie¬ der eintreten, selbst Coriolan kann von den Richtern noch freigesprochen werden; Macbeth ist noch unverwundbar durch jeden, den ein Weib geboren, als schon der grüne Wald gegen seine Burg heranzieht. Unsere Dichter gerathen nnr des¬ halb am Schluß auf die Sandbank, weil die dramatischen Charaktere, dnrch welche sie den Schluß bestimmen lassen, fehlerhaft sind. Entweder sind sie ganz unwahr, ein Gemenge von willkürlichen Einfällen, welche keine vernünftigen Konsequenzen haben, wie im Werner, Otfried n. f. w. oder der Seelenproccß, welchen die Cha¬ raktere durchzumachen haben, wird mit großer geistiger Freiheit durchgemacht und läuft auf nichts, als auf vermehrte Selbsterkenntniß und ein richtiges Verstehen

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341563_279025
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341563_279025/29
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 8, 1849, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341563_279025/29>, abgerufen am 10.02.2025.