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Die Grenzboten. Jg. 8, 1849, II. Semester. III. Band.

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danken, und er ist vollkommen gerechtfertigt, wenn er das empirische Material der
Herrschaft des poetischen Gedankens zu unterwerfen verstand.

Für die Kritik ergibt sich aus solcher Analyse ein wesentlicher Vortheil. Die
Freunde des Dichters haben sich häusig abgemüht, auch aus kleinen Nebenumstän¬
den eine bestimmte Absicht des Dichters herauszufühlen, eine Beziehung auf den
Gesammtzweck. Ein bestimmtes Urtheil darüber gewinnt man nur durch einen
Vergleich der Quellen. Ich bemerke beiläufig, daß in vielen Fällen der Zweck
des Dichters durch einen solchen Vergleich nur noch schärfer herausgestellt wird;
man wird sich z. B. der tiefen Absichtlichkeit in den Charakterwendungcn Ham¬
let's erst dann völlig bewußt, wenn man die frühere Bearbeitung, die der Dich¬
ter vorfand, der seinigen zur Seite stellt.




Goethes Geburt fällt ungefähr zusammen mit dem Erscheinen der ersten Ge¬
sänge des Messias (1748). Hundert Jahre sind seitdem verflossen, und in der
Mairevolution eröffnet sich ebenso eine neue Phase des deutschen Lebens, wie in
jenem merkwürdigen Gedicht. Von Klopstock bis zu Herwegh hin war die Litera¬
tur und in ihr der Idealismus des Herzens das Centrum des deutschen Dichtens
und Trachtens. Selbst die Freiheitskriege tragen einen lyrischen Charakter; sie
liefen in burschenschaftliche Devisen, Elegien im Kerker und Veteranenfeste aus.
Auch die Revolution des vorigen Jahres fing mit dem Idealismus an, und zwar
mit einem sehr groben, aber sie hat sich sogleich verwelkliche, indem sie die Masse
in Fluß setzte und die handelnden Personen vor das Forum der Oeffentlichkeit
zog. Wie es nun auch mit den einzelnen Errungenschaften unserer Revolution aus¬
sehn mag, soviel hat sich herausgestellt, daß unsere Helden die private Charakter¬
maske abwerfen müssen.

Das vorige Jahrhundert, von Klopstock an, war in dem Cultus abstrakter
Persönlichkeiten befangen. Man befleißigte sich, da man in zugleich zweckmäßig
und idealer Beschäftigung sich zu bethätigen keine Gelegenheit hatte, in aller Eile
soviel als möglich zu empfinden, und die Reihe dieser Empfindungen sich und der
Nachwelt zum Frommen aufzuzeichnen. Was ist nicht damals correspondirt wor¬
den! Von den Tagebüchern, die einer schönen Seele unumgänglich nöthig waren,
gar nicht zu reden! Große Männer schilderte man in ihrem "Leben und Meinun¬
gen" oder in ihren Leiden; die Virtuosität in Genuß und im Schmerz machte den
Mann der Zeit. Goethes Werke sind eigentlich nur eine Reihe von Memoiren zum
Verständniß dieser schönen Seele, an deren Bilde die gestimmte Nation sich weidete.

Man interessirt sich jetzt wohl auch noch für die Äußerlichkeiten der Koryphäen
des Tages, ob sie einen starken Bart haben, ob sie in Baß oder Tenor sprechen,
ob sie verliebter Natur sind, viel trinken u. s. w., aber das ist nur nebenbei.
Ein junger Freund von Gervinus hat in diesen Blättern den Idealismus dieses


danken, und er ist vollkommen gerechtfertigt, wenn er das empirische Material der
Herrschaft des poetischen Gedankens zu unterwerfen verstand.

Für die Kritik ergibt sich aus solcher Analyse ein wesentlicher Vortheil. Die
Freunde des Dichters haben sich häusig abgemüht, auch aus kleinen Nebenumstän¬
den eine bestimmte Absicht des Dichters herauszufühlen, eine Beziehung auf den
Gesammtzweck. Ein bestimmtes Urtheil darüber gewinnt man nur durch einen
Vergleich der Quellen. Ich bemerke beiläufig, daß in vielen Fällen der Zweck
des Dichters durch einen solchen Vergleich nur noch schärfer herausgestellt wird;
man wird sich z. B. der tiefen Absichtlichkeit in den Charakterwendungcn Ham¬
let's erst dann völlig bewußt, wenn man die frühere Bearbeitung, die der Dich¬
ter vorfand, der seinigen zur Seite stellt.




Goethes Geburt fällt ungefähr zusammen mit dem Erscheinen der ersten Ge¬
sänge des Messias (1748). Hundert Jahre sind seitdem verflossen, und in der
Mairevolution eröffnet sich ebenso eine neue Phase des deutschen Lebens, wie in
jenem merkwürdigen Gedicht. Von Klopstock bis zu Herwegh hin war die Litera¬
tur und in ihr der Idealismus des Herzens das Centrum des deutschen Dichtens
und Trachtens. Selbst die Freiheitskriege tragen einen lyrischen Charakter; sie
liefen in burschenschaftliche Devisen, Elegien im Kerker und Veteranenfeste aus.
Auch die Revolution des vorigen Jahres fing mit dem Idealismus an, und zwar
mit einem sehr groben, aber sie hat sich sogleich verwelkliche, indem sie die Masse
in Fluß setzte und die handelnden Personen vor das Forum der Oeffentlichkeit
zog. Wie es nun auch mit den einzelnen Errungenschaften unserer Revolution aus¬
sehn mag, soviel hat sich herausgestellt, daß unsere Helden die private Charakter¬
maske abwerfen müssen.

Das vorige Jahrhundert, von Klopstock an, war in dem Cultus abstrakter
Persönlichkeiten befangen. Man befleißigte sich, da man in zugleich zweckmäßig
und idealer Beschäftigung sich zu bethätigen keine Gelegenheit hatte, in aller Eile
soviel als möglich zu empfinden, und die Reihe dieser Empfindungen sich und der
Nachwelt zum Frommen aufzuzeichnen. Was ist nicht damals correspondirt wor¬
den! Von den Tagebüchern, die einer schönen Seele unumgänglich nöthig waren,
gar nicht zu reden! Große Männer schilderte man in ihrem „Leben und Meinun¬
gen" oder in ihren Leiden; die Virtuosität in Genuß und im Schmerz machte den
Mann der Zeit. Goethes Werke sind eigentlich nur eine Reihe von Memoiren zum
Verständniß dieser schönen Seele, an deren Bilde die gestimmte Nation sich weidete.

Man interessirt sich jetzt wohl auch noch für die Äußerlichkeiten der Koryphäen
des Tages, ob sie einen starken Bart haben, ob sie in Baß oder Tenor sprechen,
ob sie verliebter Natur sind, viel trinken u. s. w., aber das ist nur nebenbei.
Ein junger Freund von Gervinus hat in diesen Blättern den Idealismus dieses


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[0214] danken, und er ist vollkommen gerechtfertigt, wenn er das empirische Material der Herrschaft des poetischen Gedankens zu unterwerfen verstand. Für die Kritik ergibt sich aus solcher Analyse ein wesentlicher Vortheil. Die Freunde des Dichters haben sich häusig abgemüht, auch aus kleinen Nebenumstän¬ den eine bestimmte Absicht des Dichters herauszufühlen, eine Beziehung auf den Gesammtzweck. Ein bestimmtes Urtheil darüber gewinnt man nur durch einen Vergleich der Quellen. Ich bemerke beiläufig, daß in vielen Fällen der Zweck des Dichters durch einen solchen Vergleich nur noch schärfer herausgestellt wird; man wird sich z. B. der tiefen Absichtlichkeit in den Charakterwendungcn Ham¬ let's erst dann völlig bewußt, wenn man die frühere Bearbeitung, die der Dich¬ ter vorfand, der seinigen zur Seite stellt. Goethes Geburt fällt ungefähr zusammen mit dem Erscheinen der ersten Ge¬ sänge des Messias (1748). Hundert Jahre sind seitdem verflossen, und in der Mairevolution eröffnet sich ebenso eine neue Phase des deutschen Lebens, wie in jenem merkwürdigen Gedicht. Von Klopstock bis zu Herwegh hin war die Litera¬ tur und in ihr der Idealismus des Herzens das Centrum des deutschen Dichtens und Trachtens. Selbst die Freiheitskriege tragen einen lyrischen Charakter; sie liefen in burschenschaftliche Devisen, Elegien im Kerker und Veteranenfeste aus. Auch die Revolution des vorigen Jahres fing mit dem Idealismus an, und zwar mit einem sehr groben, aber sie hat sich sogleich verwelkliche, indem sie die Masse in Fluß setzte und die handelnden Personen vor das Forum der Oeffentlichkeit zog. Wie es nun auch mit den einzelnen Errungenschaften unserer Revolution aus¬ sehn mag, soviel hat sich herausgestellt, daß unsere Helden die private Charakter¬ maske abwerfen müssen. Das vorige Jahrhundert, von Klopstock an, war in dem Cultus abstrakter Persönlichkeiten befangen. Man befleißigte sich, da man in zugleich zweckmäßig und idealer Beschäftigung sich zu bethätigen keine Gelegenheit hatte, in aller Eile soviel als möglich zu empfinden, und die Reihe dieser Empfindungen sich und der Nachwelt zum Frommen aufzuzeichnen. Was ist nicht damals correspondirt wor¬ den! Von den Tagebüchern, die einer schönen Seele unumgänglich nöthig waren, gar nicht zu reden! Große Männer schilderte man in ihrem „Leben und Meinun¬ gen" oder in ihren Leiden; die Virtuosität in Genuß und im Schmerz machte den Mann der Zeit. Goethes Werke sind eigentlich nur eine Reihe von Memoiren zum Verständniß dieser schönen Seele, an deren Bilde die gestimmte Nation sich weidete. Man interessirt sich jetzt wohl auch noch für die Äußerlichkeiten der Koryphäen des Tages, ob sie einen starken Bart haben, ob sie in Baß oder Tenor sprechen, ob sie verliebter Natur sind, viel trinken u. s. w., aber das ist nur nebenbei. Ein junger Freund von Gervinus hat in diesen Blättern den Idealismus dieses

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 8, 1849, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341563_279025/214>, abgerufen am 05.02.2025.