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Die Grenzboten. Jg. 8, 1849, II. Semester. III. Band.

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was wir "Handlung" nennen, zumeist von folgenden Punkten ab. Erstens,
ob der erregende Moment des Anfanges die Aufmerksamkeit spannt und in dem
Zuschauer die Empfindung einer ahnungsvollen Theilnahme hervorruft. Zweitens,
ob der Moment der concentrirten That, jener Höhenpunkt der Handlung, psycholo¬
gisch richtig angebahnt wird und mächtig und erschütternd heraustritt. Drittens, ob
in deu letzten Akten die Rückwirkung der Außenwelt auf die Seele der Helden,
d. h. die Folgen seiner That, in wirksamen Situationen, deren Effecte sich gegen
das Ende steigern, zur Darstellung kommen und viertens, ob die Katastrophe des
Stückes auch ausreicht, die Harmonie der gestörten Verhältnisse wiederherzustellen
und das ethische Gefühl der Zuschauer zu befriedigen. Es sind verschiedene Eigen¬
schaften einer dramatischen Dichternatur, welche bei diesen vier Punkten, auf denen
der kunstgerechte Bau zum großen Theil beruht, gefordert werden. Eine gute
Einleitung für das Stück und ein interessantes Moment zu finden, welches die
Seele des Helden im Anfang des Stücks anf die Handlung vorbereitet, ist Sache
des Scharfsinns und der Routine: daher sind Gutzkows erste Akte das Beste an seinen
Stücken. Den Höhenpunkt des Stückes künstlerisch vorzubereiten und denselben mächtig
herauszutreiben, ist vorzugsweise Sache der productiven Kraft des Dichters; die
Schlußkatastrophe gut zu machen, dazu gehört außer dem Dichtertalent auch Le¬
bensbildung, ein feines und sicheres ethisches Fühlen; den vierten und fünften
Akt aber wirksam zu schaffen, jenen Theil des Dramas, wo nicht mehr die Ge¬
fühle und Forderungen der einzelnen Heldeupersonen die treibende Kraft sind, son¬
dern wo die Welt des Helden, die Folge seiner That, selbst gegen ihn arbeitet,
und sich mit immer größerer Macht über ihn erhebt, diesen Theil gut zu macheu
ist am schwersten. Hier kann weder Routine, noch Reichthum poetischer Anschauun¬
gen, noch weise Klarheit des Dichters das Gelingen verbürgen, es gehört dazu
eine Vereinigung von allen diesen Eigenschaften und außerdem ein guter Stoff
und ein guter Griff, d. h. gutes Glück. Junge Dramendichter fallen in der Regel
schon beim Anfang des Stückes; ihnen ist der Stoff, den sie darstellen wollen,
so lieb, und der jungfräuliche Genuß, den jeder Dichter bei seinem ersten Schaffen
hat, noch so groß, daß sie im Publikum ein gleiches Interesse voraussetzen; dar¬
über versäumen sie zu spannen und zu reizen. Und doch ist dies zweckmäßig und
unentbehrlich. Nach dem Ausziehn des Vorhangs ist die erste Nothwendigkeit, das
Publikum aus der Alltugsstimmung herauszureißen, und ihm die Welt der künst¬
lerischen Wahrheit, in welche es so plötzlich versetzt worden ist, imponirend zu
machen, zu gleicher Zeit aber in der Exposition des Stückes den Grundton des
ganzen Dramas vorgingen zu lassen. Deshalb müssen die Anfangsseeueu das
Charakteristische der Zeit, der Nationalität, der Familien, welche dargestellt werden
sollen, andeuten. Ja, noch mehr, es wird vortheilhaft sein, wenn auch das er¬
wähnte Motiv der ganzen Handlung, welches hier das erregende Moment genannt


was wir „Handlung" nennen, zumeist von folgenden Punkten ab. Erstens,
ob der erregende Moment des Anfanges die Aufmerksamkeit spannt und in dem
Zuschauer die Empfindung einer ahnungsvollen Theilnahme hervorruft. Zweitens,
ob der Moment der concentrirten That, jener Höhenpunkt der Handlung, psycholo¬
gisch richtig angebahnt wird und mächtig und erschütternd heraustritt. Drittens, ob
in deu letzten Akten die Rückwirkung der Außenwelt auf die Seele der Helden,
d. h. die Folgen seiner That, in wirksamen Situationen, deren Effecte sich gegen
das Ende steigern, zur Darstellung kommen und viertens, ob die Katastrophe des
Stückes auch ausreicht, die Harmonie der gestörten Verhältnisse wiederherzustellen
und das ethische Gefühl der Zuschauer zu befriedigen. Es sind verschiedene Eigen¬
schaften einer dramatischen Dichternatur, welche bei diesen vier Punkten, auf denen
der kunstgerechte Bau zum großen Theil beruht, gefordert werden. Eine gute
Einleitung für das Stück und ein interessantes Moment zu finden, welches die
Seele des Helden im Anfang des Stücks anf die Handlung vorbereitet, ist Sache
des Scharfsinns und der Routine: daher sind Gutzkows erste Akte das Beste an seinen
Stücken. Den Höhenpunkt des Stückes künstlerisch vorzubereiten und denselben mächtig
herauszutreiben, ist vorzugsweise Sache der productiven Kraft des Dichters; die
Schlußkatastrophe gut zu machen, dazu gehört außer dem Dichtertalent auch Le¬
bensbildung, ein feines und sicheres ethisches Fühlen; den vierten und fünften
Akt aber wirksam zu schaffen, jenen Theil des Dramas, wo nicht mehr die Ge¬
fühle und Forderungen der einzelnen Heldeupersonen die treibende Kraft sind, son¬
dern wo die Welt des Helden, die Folge seiner That, selbst gegen ihn arbeitet,
und sich mit immer größerer Macht über ihn erhebt, diesen Theil gut zu macheu
ist am schwersten. Hier kann weder Routine, noch Reichthum poetischer Anschauun¬
gen, noch weise Klarheit des Dichters das Gelingen verbürgen, es gehört dazu
eine Vereinigung von allen diesen Eigenschaften und außerdem ein guter Stoff
und ein guter Griff, d. h. gutes Glück. Junge Dramendichter fallen in der Regel
schon beim Anfang des Stückes; ihnen ist der Stoff, den sie darstellen wollen,
so lieb, und der jungfräuliche Genuß, den jeder Dichter bei seinem ersten Schaffen
hat, noch so groß, daß sie im Publikum ein gleiches Interesse voraussetzen; dar¬
über versäumen sie zu spannen und zu reizen. Und doch ist dies zweckmäßig und
unentbehrlich. Nach dem Ausziehn des Vorhangs ist die erste Nothwendigkeit, das
Publikum aus der Alltugsstimmung herauszureißen, und ihm die Welt der künst¬
lerischen Wahrheit, in welche es so plötzlich versetzt worden ist, imponirend zu
machen, zu gleicher Zeit aber in der Exposition des Stückes den Grundton des
ganzen Dramas vorgingen zu lassen. Deshalb müssen die Anfangsseeueu das
Charakteristische der Zeit, der Nationalität, der Familien, welche dargestellt werden
sollen, andeuten. Ja, noch mehr, es wird vortheilhaft sein, wenn auch das er¬
wähnte Motiv der ganzen Handlung, welches hier das erregende Moment genannt


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 8, 1849, II. Semester. III. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341563_279025/21>, abgerufen am 05.02.2025.