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Die Grenzboten. Jg. 8, 1849, I. Semester. II. Band.

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Preußische Briefe.



Achter Vries.
Die deutsche Frage in den preußischen Kammern.

Herr v. Meusebach hatte neulich in der zweiten Kammer die Kühnheit zu
behaupten, er wittere schon den Leichengeruch, der auch der neuen Versammlung
ihr nahe bevorstehendes Schicksal verkündige. So widerwärtig das Hämische dieser
Bemerkung klingt, so drängt sich doch eine ähnliche Jedem auf, der ohne Vor-
urtheil beobachtet. So bedeutend die Kräfte diesmal sind, die sich in dem Som-
merlocal des Döhnhvfplatzes zusammendrängen, die Lebensfähigkeit eines organi¬
schen Ganzen geht ihnen ab: nachdem sie den ersten großen Schritt gethan haben,
den das preußische Volk von ihnen erwartete, die Anerkennung der oetroyirten
Verfassung, hat die Parteibildung eine so anomale Form angenommen, daß es
unmöglich scheint, sie zu einem bestimmt formulirten Beschluß zu vereinige". Die
Sitzung vom 5. April gab ein trauriges Bild dieser krankhaften Entwickelung.
Wenn ein Ereignis?, wie die Kaiserwahl und die dadurch hervorgerufene Erklä¬
rung der Krone nicht im Stande sind, die Versammlung zu elektrisiren, so wird
es schwer, von irgend einer neuen Wendung dieses productive Lebenselement zu
erwarten, das den bisher nur mechanisch verbundenen Gliedern eine Seele ein¬
haucht.

Die Redner der reactionären Partei verstehen freilich die Lebensfähigkeit einer
Versammlung anders als wir. Der Tod, den sie wittern, ist nicht die natürliche
Auflösung, sondern das Ende eines blutigen Conflicts. Sie sehen namentlich in
der zweiten Kammer eine übelgesinnte Opposition gegen die weisen Beschlüsse der
Regierung, und glauben uoch an die Militärgewalt, sie werde hinreichen, den
Trotz eines unberechtigten Widerstandes zu brechen. Sie täuschen sich, denn die
jetzige Versammlung ist uicht mehr der Ausdruck der Revolution, der man im
äußersten Fall durch eine Contrerevolution begegnet, sondern es ist das gesetzliche
Organ der, öffentlichen Meinung. Der Kampf gegen eine revolutionäre Gewalt
ist, wenn er glücklich ausgeht, eine "rettende That;" die Verletzung der Verf.is-


Grenzbvtt". ^
Preußische Briefe.



Achter Vries.
Die deutsche Frage in den preußischen Kammern.

Herr v. Meusebach hatte neulich in der zweiten Kammer die Kühnheit zu
behaupten, er wittere schon den Leichengeruch, der auch der neuen Versammlung
ihr nahe bevorstehendes Schicksal verkündige. So widerwärtig das Hämische dieser
Bemerkung klingt, so drängt sich doch eine ähnliche Jedem auf, der ohne Vor-
urtheil beobachtet. So bedeutend die Kräfte diesmal sind, die sich in dem Som-
merlocal des Döhnhvfplatzes zusammendrängen, die Lebensfähigkeit eines organi¬
schen Ganzen geht ihnen ab: nachdem sie den ersten großen Schritt gethan haben,
den das preußische Volk von ihnen erwartete, die Anerkennung der oetroyirten
Verfassung, hat die Parteibildung eine so anomale Form angenommen, daß es
unmöglich scheint, sie zu einem bestimmt formulirten Beschluß zu vereinige». Die
Sitzung vom 5. April gab ein trauriges Bild dieser krankhaften Entwickelung.
Wenn ein Ereignis?, wie die Kaiserwahl und die dadurch hervorgerufene Erklä¬
rung der Krone nicht im Stande sind, die Versammlung zu elektrisiren, so wird
es schwer, von irgend einer neuen Wendung dieses productive Lebenselement zu
erwarten, das den bisher nur mechanisch verbundenen Gliedern eine Seele ein¬
haucht.

Die Redner der reactionären Partei verstehen freilich die Lebensfähigkeit einer
Versammlung anders als wir. Der Tod, den sie wittern, ist nicht die natürliche
Auflösung, sondern das Ende eines blutigen Conflicts. Sie sehen namentlich in
der zweiten Kammer eine übelgesinnte Opposition gegen die weisen Beschlüsse der
Regierung, und glauben uoch an die Militärgewalt, sie werde hinreichen, den
Trotz eines unberechtigten Widerstandes zu brechen. Sie täuschen sich, denn die
jetzige Versammlung ist uicht mehr der Ausdruck der Revolution, der man im
äußersten Fall durch eine Contrerevolution begegnet, sondern es ist das gesetzliche
Organ der, öffentlichen Meinung. Der Kampf gegen eine revolutionäre Gewalt
ist, wenn er glücklich ausgeht, eine „rettende That;" die Verletzung der Verf.is-


Grenzbvtt». ^
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[0085] Preußische Briefe. Achter Vries. Die deutsche Frage in den preußischen Kammern. Herr v. Meusebach hatte neulich in der zweiten Kammer die Kühnheit zu behaupten, er wittere schon den Leichengeruch, der auch der neuen Versammlung ihr nahe bevorstehendes Schicksal verkündige. So widerwärtig das Hämische dieser Bemerkung klingt, so drängt sich doch eine ähnliche Jedem auf, der ohne Vor- urtheil beobachtet. So bedeutend die Kräfte diesmal sind, die sich in dem Som- merlocal des Döhnhvfplatzes zusammendrängen, die Lebensfähigkeit eines organi¬ schen Ganzen geht ihnen ab: nachdem sie den ersten großen Schritt gethan haben, den das preußische Volk von ihnen erwartete, die Anerkennung der oetroyirten Verfassung, hat die Parteibildung eine so anomale Form angenommen, daß es unmöglich scheint, sie zu einem bestimmt formulirten Beschluß zu vereinige». Die Sitzung vom 5. April gab ein trauriges Bild dieser krankhaften Entwickelung. Wenn ein Ereignis?, wie die Kaiserwahl und die dadurch hervorgerufene Erklä¬ rung der Krone nicht im Stande sind, die Versammlung zu elektrisiren, so wird es schwer, von irgend einer neuen Wendung dieses productive Lebenselement zu erwarten, das den bisher nur mechanisch verbundenen Gliedern eine Seele ein¬ haucht. Die Redner der reactionären Partei verstehen freilich die Lebensfähigkeit einer Versammlung anders als wir. Der Tod, den sie wittern, ist nicht die natürliche Auflösung, sondern das Ende eines blutigen Conflicts. Sie sehen namentlich in der zweiten Kammer eine übelgesinnte Opposition gegen die weisen Beschlüsse der Regierung, und glauben uoch an die Militärgewalt, sie werde hinreichen, den Trotz eines unberechtigten Widerstandes zu brechen. Sie täuschen sich, denn die jetzige Versammlung ist uicht mehr der Ausdruck der Revolution, der man im äußersten Fall durch eine Contrerevolution begegnet, sondern es ist das gesetzliche Organ der, öffentlichen Meinung. Der Kampf gegen eine revolutionäre Gewalt ist, wenn er glücklich ausgeht, eine „rettende That;" die Verletzung der Verf.is- Grenzbvtt». ^

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 8, 1849, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341563_278509/85>, abgerufen am 15.01.2025.