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Die Grenzboten. Jg. 8, 1849, I. Semester. II. Band.

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Was treibt die Leute fort? Ist es die Übervölkerung? Nein, gewiß nicht, denn
Deutschland ist nicht übervölkert und die einzelnen Districte, in welchen Population
und Production im Mißverhältniß zum Schaden der ersteren stehen, danken dies,
laut dem schlagenden Zeugniß der Statistik, einzig der niederen Stufe oder In¬
dolenz der letzteren. Ist vielleicht die Freiheit des amerikanischen Staatslebens,
seine republikanische Verfassung der Lockvogel, der den armen deutschen Bauer in
den Schatten des Urwalds lockt? Schwerlich -- oder wenigstens nur in sehr
wenigen Fällen; der deutsche Bauer ist allerdings ein abgesagter Feind vom Steuer¬
zahler, aber deshalb opfert er noch lange nicht die Heimatl) mit allen ihren Er¬
innerungen und Gewohnheiten. Es ist freilich in Frankfurt gesagt worden: Ein
Beweis, daß die politischen Einrichtungen des lieben deutschen Vaterlands die
Mehrzahl zur Auswanderung nöthigen, liegt darin, daß im Jahre 1848, als
sich der politische Horizont auch bei uns zu klare" anfing, seit fünf Jahren die
kleinste Zahl von Auswanderern befördert worden ist. Allein es ist dabei zu be¬
denken, daß die Zustände des vergangenen Jahres es nicht erlaubte", anders als
mit den schwersten Opfern ein Vermögen in liegenden Gütern mobil zu macheu
oder auf andre Weise das Seinige ohne Verlust zusammenzufassen; ja es ist sogar
auch in Betracht zu ziehen, daß die Dänen eine geraume Zeit des Jahres hin¬
durch unsere Answandernngshäsen blokirten und die Schifffahrt hinderten. Jener
Beweis zerfällt also in sich selbst. Die Hauptursache der Auswanderung in Deutsch¬
land trägt das Volk, mehr wie viele andre, in sich selbst: Es ist der romantische
Drang in die Ferne, der in jedem Menschen zeitweise im Jahr erwacht, es ist
die unbestimmte Unzufriedenheit mit der gegenwärtigen Lage, die zum quälenden
Stachel wird, wenn Berichte und Gerüchte aus fernem Welttheil von den: wun-
dergleicher Glück bekannter Personen, welche früher fortgewandert, erzählen, und
denen gleich zu stehen oder es ihnen gar zuvor zu thu", man ein sicheres Anrecht
zu haben glaubt. Die Auswanderungslust ist kein Product unserer politischen und
socialen Zustände, sondern sie entsprang der unruhigen Menschenseele als ein sich
empörendes Gegengewicht der Stagnation und des Einerlei im practischen Leben.

Mag aber ihre Ursache liegen, wo sie wolle -- jetzt, in der gegenwärtigen
Zeit, ist die Erscheinung der Auswanderung eine tiefe, schmerzliche Wunde im
großen Staatsorganismus. Sie raubt dem Lande brauchbare Kräfte; sie entzieht
ihm nach und nach ungeheure Summen von Capitalien, welche durch den Bei lehr
wieder zu erhalten in weiter Ferne noch nicht Aussicht vorhanden ist; sie entführt
den Ständen des Volks in unverhältnißmäßiger Anzahl das wichtigste Bindeglied,
den Kleinbauer, der sich auf eigner Hufe selbst ernährt, und durch Arbeit bei
Andern jährlich ein Sümmchen zu erübrigen vermag, während der Troß der Ar¬
beitsscheuen, der nicht auswandern kann, als schlimme Hefe zurückbleibt. Allen
diesen Nachtheilen gegenüber gewährt die Auswanderung den deutsche" Staaien
keinen einzigen Ersatz -- ihnen nützt die Bestimmung des germanischen Stammes,


Was treibt die Leute fort? Ist es die Übervölkerung? Nein, gewiß nicht, denn
Deutschland ist nicht übervölkert und die einzelnen Districte, in welchen Population
und Production im Mißverhältniß zum Schaden der ersteren stehen, danken dies,
laut dem schlagenden Zeugniß der Statistik, einzig der niederen Stufe oder In¬
dolenz der letzteren. Ist vielleicht die Freiheit des amerikanischen Staatslebens,
seine republikanische Verfassung der Lockvogel, der den armen deutschen Bauer in
den Schatten des Urwalds lockt? Schwerlich — oder wenigstens nur in sehr
wenigen Fällen; der deutsche Bauer ist allerdings ein abgesagter Feind vom Steuer¬
zahler, aber deshalb opfert er noch lange nicht die Heimatl) mit allen ihren Er¬
innerungen und Gewohnheiten. Es ist freilich in Frankfurt gesagt worden: Ein
Beweis, daß die politischen Einrichtungen des lieben deutschen Vaterlands die
Mehrzahl zur Auswanderung nöthigen, liegt darin, daß im Jahre 1848, als
sich der politische Horizont auch bei uns zu klare» anfing, seit fünf Jahren die
kleinste Zahl von Auswanderern befördert worden ist. Allein es ist dabei zu be¬
denken, daß die Zustände des vergangenen Jahres es nicht erlaubte», anders als
mit den schwersten Opfern ein Vermögen in liegenden Gütern mobil zu macheu
oder auf andre Weise das Seinige ohne Verlust zusammenzufassen; ja es ist sogar
auch in Betracht zu ziehen, daß die Dänen eine geraume Zeit des Jahres hin¬
durch unsere Answandernngshäsen blokirten und die Schifffahrt hinderten. Jener
Beweis zerfällt also in sich selbst. Die Hauptursache der Auswanderung in Deutsch¬
land trägt das Volk, mehr wie viele andre, in sich selbst: Es ist der romantische
Drang in die Ferne, der in jedem Menschen zeitweise im Jahr erwacht, es ist
die unbestimmte Unzufriedenheit mit der gegenwärtigen Lage, die zum quälenden
Stachel wird, wenn Berichte und Gerüchte aus fernem Welttheil von den: wun-
dergleicher Glück bekannter Personen, welche früher fortgewandert, erzählen, und
denen gleich zu stehen oder es ihnen gar zuvor zu thu», man ein sicheres Anrecht
zu haben glaubt. Die Auswanderungslust ist kein Product unserer politischen und
socialen Zustände, sondern sie entsprang der unruhigen Menschenseele als ein sich
empörendes Gegengewicht der Stagnation und des Einerlei im practischen Leben.

Mag aber ihre Ursache liegen, wo sie wolle — jetzt, in der gegenwärtigen
Zeit, ist die Erscheinung der Auswanderung eine tiefe, schmerzliche Wunde im
großen Staatsorganismus. Sie raubt dem Lande brauchbare Kräfte; sie entzieht
ihm nach und nach ungeheure Summen von Capitalien, welche durch den Bei lehr
wieder zu erhalten in weiter Ferne noch nicht Aussicht vorhanden ist; sie entführt
den Ständen des Volks in unverhältnißmäßiger Anzahl das wichtigste Bindeglied,
den Kleinbauer, der sich auf eigner Hufe selbst ernährt, und durch Arbeit bei
Andern jährlich ein Sümmchen zu erübrigen vermag, während der Troß der Ar¬
beitsscheuen, der nicht auswandern kann, als schlimme Hefe zurückbleibt. Allen
diesen Nachtheilen gegenüber gewährt die Auswanderung den deutsche» Staaien
keinen einzigen Ersatz — ihnen nützt die Bestimmung des germanischen Stammes,


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 8, 1849, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341563_278509/56>, abgerufen am 15.01.2025.