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Die Grenzboten. Jg. 8, 1849, I. Semester. II. Band.

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heutzutage sind in Neapel die Lazaroni fast eben so eifrige Stützen des Thrones
als die Schweizer. Sind sie deshalb keine Italiener?

Freilich in jenen Regionen, von wo aus man den Ruthenen ihre Nationalität
octroyirt hat, weiß man das Alles recht gut; aber man hat im Jahre 1846 von
der Uneinigkeit des Volkes so viel Nutzen gezogen, daß man für alle Eventuali¬
täten die Kluft offen zu halten wünscht. Da es jedoch nicht schicklich wäre, von
oben herab die verschiedenen Volksklassen gegen einander zu Hetzen, so versucht
mau es jetzt die Parteien in Nationen zu verkleiden, um sie dann unter der
Fahne der Gleichberechtigung ins Feld zu führen.

Dies mag recht schlan sein, aber wahre vorsorgliche Politik ist es nicht.
Diese begnügt sich nicht damit, zur Zeit der Ruhe die Mittel vorzubereiten, künf-
tigen Aufständen zu begegnen, sondern sie sucht sie durch Hinwegräumen der ver¬
anlassenden Ursachen unmöglich zu machen. Und dies ist auch hier uicht so schwer.
Wir wenigstens halten die Polen, den Adel inbegriffen, durchaus nicht für un¬
versöhnliche Feinde Oestreichs. Sie denken freilich noch immer an ihr altes
Vaterland, und daß Oestreich zu dessen Zerstückelung mit geholfen und einen Theil
der Spolien an sich gebracht, war eben nicht geeignet, dieser Macht ihre Sym¬
pathien zuzuwenden. Aber das Motiv ihrer wiederholten Aufstände war nicht blos
der Groll über altes historisches Unrecht, auch uicht allein das Streben nach
Wiedervereinigung mit den andern polnischen Provinzen, sondern, wie wir bereits
angedeutet haben, noch mehr als dies alles der Mangel politischer Freiheit und
alles öffentlichen Lebens. Wären sie (die Polen) statt unter drei absolute Mo¬
narchien, unter eben so viele freie Staaten vertheilt worden, sie hätten den Verlust
ihrer Selbstständigkeit jetzt bereits verschmerzt. Denn das Bedürfniß nationaler
Einheit und Selbstständigkeit ist allerdings ein wahres, aber keineswegs ein sol¬
ches, daß ein Volk, wenn es sich sonst im Genusse bürgerlicher und politischer
Freiheit befindet, und wenn sein Zustand auch in materieller Beziehung ein befrie¬
digender ist, eine Revolution anfangen sollte, blos um einen Staat auf Grund¬
lage der Nationalität herzustellen.

Dies gilt, nebenbei gesagt, uicht nur von Polen, sondern auch von Italien
und Deutschland. Hätten die einzelnen Regierungen Italiens ihre Aufgabe nicht
gar so sehr vernachlässigt, hätten sie mehr für die materiellen Interessen gesorgt,
der Bildung und Aufklärung des Volkes keine Hindernisse in den Weg gelegt
und ihren Unterthanen mehr politische Freiheit gewährt, blos um der "Constituante"
willen hätte" die Italiener nicht zu den Waffen gegriffen. Und eben so in Deutsch¬
land, wären im Jahre 18l5 in Wien und Berlin Parlamente zusammenberufen
worden, so säße jetzt vielleicht keines in Frankfurt. Den besten Beweis hiefür
liefern das Elsaß und Korsika. Warum sind diese Länder der deutschen und ita¬
lienischen Bewegung so fremd geblieben? Weil die Corsen und Elsässer als frau-


heutzutage sind in Neapel die Lazaroni fast eben so eifrige Stützen des Thrones
als die Schweizer. Sind sie deshalb keine Italiener?

Freilich in jenen Regionen, von wo aus man den Ruthenen ihre Nationalität
octroyirt hat, weiß man das Alles recht gut; aber man hat im Jahre 1846 von
der Uneinigkeit des Volkes so viel Nutzen gezogen, daß man für alle Eventuali¬
täten die Kluft offen zu halten wünscht. Da es jedoch nicht schicklich wäre, von
oben herab die verschiedenen Volksklassen gegen einander zu Hetzen, so versucht
mau es jetzt die Parteien in Nationen zu verkleiden, um sie dann unter der
Fahne der Gleichberechtigung ins Feld zu führen.

Dies mag recht schlan sein, aber wahre vorsorgliche Politik ist es nicht.
Diese begnügt sich nicht damit, zur Zeit der Ruhe die Mittel vorzubereiten, künf-
tigen Aufständen zu begegnen, sondern sie sucht sie durch Hinwegräumen der ver¬
anlassenden Ursachen unmöglich zu machen. Und dies ist auch hier uicht so schwer.
Wir wenigstens halten die Polen, den Adel inbegriffen, durchaus nicht für un¬
versöhnliche Feinde Oestreichs. Sie denken freilich noch immer an ihr altes
Vaterland, und daß Oestreich zu dessen Zerstückelung mit geholfen und einen Theil
der Spolien an sich gebracht, war eben nicht geeignet, dieser Macht ihre Sym¬
pathien zuzuwenden. Aber das Motiv ihrer wiederholten Aufstände war nicht blos
der Groll über altes historisches Unrecht, auch uicht allein das Streben nach
Wiedervereinigung mit den andern polnischen Provinzen, sondern, wie wir bereits
angedeutet haben, noch mehr als dies alles der Mangel politischer Freiheit und
alles öffentlichen Lebens. Wären sie (die Polen) statt unter drei absolute Mo¬
narchien, unter eben so viele freie Staaten vertheilt worden, sie hätten den Verlust
ihrer Selbstständigkeit jetzt bereits verschmerzt. Denn das Bedürfniß nationaler
Einheit und Selbstständigkeit ist allerdings ein wahres, aber keineswegs ein sol¬
ches, daß ein Volk, wenn es sich sonst im Genusse bürgerlicher und politischer
Freiheit befindet, und wenn sein Zustand auch in materieller Beziehung ein befrie¬
digender ist, eine Revolution anfangen sollte, blos um einen Staat auf Grund¬
lage der Nationalität herzustellen.

Dies gilt, nebenbei gesagt, uicht nur von Polen, sondern auch von Italien
und Deutschland. Hätten die einzelnen Regierungen Italiens ihre Aufgabe nicht
gar so sehr vernachlässigt, hätten sie mehr für die materiellen Interessen gesorgt,
der Bildung und Aufklärung des Volkes keine Hindernisse in den Weg gelegt
und ihren Unterthanen mehr politische Freiheit gewährt, blos um der „Constituante"
willen hätte» die Italiener nicht zu den Waffen gegriffen. Und eben so in Deutsch¬
land, wären im Jahre 18l5 in Wien und Berlin Parlamente zusammenberufen
worden, so säße jetzt vielleicht keines in Frankfurt. Den besten Beweis hiefür
liefern das Elsaß und Korsika. Warum sind diese Länder der deutschen und ita¬
lienischen Bewegung so fremd geblieben? Weil die Corsen und Elsässer als frau-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 8, 1849, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341563_278509/368>, abgerufen am 15.01.2025.