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Die Grenzboten. Jg. 8, 1849, I. Semester. II. Band.

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Der Grundgedanke der Hegelschen Philosophie, daß das Wirkliche vernünftig
sei, war bis dahin in einseitig theoretischem Interesse ausgebeutet worden.
Man hatte es der Idee überlassen, sich in der Geschichte zu realistren und war
dann hingegangen, um nachzuweisen, daß es so gut sei. Da uun aber das "Ver¬
nünftige" in einer successiven Entwickelung begriffen wurde, so lag die zweite Auf¬
fassung ucche, aus den gegebenen Prämissen sich das zunächst Vernünftige zu cvn-
stnnren und dasselbe alsdann als "wirtlich" zu proklamieren, d. h. an das Leben
die Forderung zu stellen, es solle sich nach dein Bilde des von der Schule als ver¬
nünftig anerkannten umgestalten. So trat das praktische Interesse, wieder
Ziemlich einseitig, in den Vordergrund. Die neuen Evangelisten lebten nämlich in
einer doppelten Illusion. Einmal nämlich stellten sie, ganz im Geist des Systems,
das "für die jetzige Zeit Vernünftige" als etwas Absolutes, in sich Vollendetes
hin; sie abstrahirten vou den bestimmten Voraussetzungen dieser Nation, dieses
Staats. Im Anfang zwar unterschieden sie sich von den "ordinären Liberalen"
dadurch, daß sie nicht behaupteten, diese oder jene Form des Staats, des Rechts,
der Kirche n. s. w. ist das absolut Vernünftige und was dieser Form nicht ent¬
spricht, ist unvernünftig gewesen in den Zeiten des Perikles wie unter Napoleon;
sie erkannten die zeitliche Bedingtheit. Wohl aber erklärten sie es für die einzig
Mögliche Form des modernen Lebens und machten daher den Unterschied zwi¬
schen humanen Völkern und Barbaren --- human war das Volk, welches jene
Formen wenigstens in sein Glaubensbekenntniß aufgenommen hatte; barbarisch, wo
das nicht geschehen war. Für die Kritik der einzelnen Staatsformen haben sie
daher auch Nichts geleistet -- das gilt übrigens von der Rheinischen Zeitung,
die auf dem Gebiet der Politik die Jahrbücher ergänzte, ebenso. Im Eifer des
Kampfes schwand gar bald auch jener Unterschied; man entdeckte, daß eigentlich
die Geschichte erst mit den französischen Encyclopädisten beginne, welche die Rechte der
Menschheit proclamirt hatten und mit der Revolution, welche wenigstens den An¬
fang damit gemacht, sie in's Werk zu setzen. Die frühere Geschichte wurde, ganz
wie voll den christlichen Historikern geschehen war, als ein Zeitalter der Barbarei
verleugnet.

Die zweite Illusion war der Glaube, daß man den vernünftigen Begriff
des Staats und der Kirche nur proklamiren dürfe, um ihn sofort zu verwirklichen.
Zum Theil entsprang diese Illusion -- im Princip wieder eine Consequenz des
Systems -- aus der freien. Bewegung, welche seit der Thronbesteigung Friedrich
Wilhelms IV. der preußische Staat der Presse octroyirte. Wenn mau also im
Anfang so weit gegangen war, anzunehmen, der Staat, welcher doch nach
Hegel der höchste Ausdruck von der Wirklichkeit der Vernunft sein sollte,
werde sofort die rechte Form annehmen, wenn ihm dieselbe nur von Seiten der Theo¬
rie dargelegt wäre, so erwartete man später wenigstens, er werde seinerseits nichts
dagegen einzuwenden haben, wenn die Theorie durch blos geistige Mittel sich durch-
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jbvtcn. II. I8is. 41

Der Grundgedanke der Hegelschen Philosophie, daß das Wirkliche vernünftig
sei, war bis dahin in einseitig theoretischem Interesse ausgebeutet worden.
Man hatte es der Idee überlassen, sich in der Geschichte zu realistren und war
dann hingegangen, um nachzuweisen, daß es so gut sei. Da uun aber das „Ver¬
nünftige" in einer successiven Entwickelung begriffen wurde, so lag die zweite Auf¬
fassung ucche, aus den gegebenen Prämissen sich das zunächst Vernünftige zu cvn-
stnnren und dasselbe alsdann als „wirtlich" zu proklamieren, d. h. an das Leben
die Forderung zu stellen, es solle sich nach dein Bilde des von der Schule als ver¬
nünftig anerkannten umgestalten. So trat das praktische Interesse, wieder
Ziemlich einseitig, in den Vordergrund. Die neuen Evangelisten lebten nämlich in
einer doppelten Illusion. Einmal nämlich stellten sie, ganz im Geist des Systems,
das „für die jetzige Zeit Vernünftige" als etwas Absolutes, in sich Vollendetes
hin; sie abstrahirten vou den bestimmten Voraussetzungen dieser Nation, dieses
Staats. Im Anfang zwar unterschieden sie sich von den „ordinären Liberalen"
dadurch, daß sie nicht behaupteten, diese oder jene Form des Staats, des Rechts,
der Kirche n. s. w. ist das absolut Vernünftige und was dieser Form nicht ent¬
spricht, ist unvernünftig gewesen in den Zeiten des Perikles wie unter Napoleon;
sie erkannten die zeitliche Bedingtheit. Wohl aber erklärten sie es für die einzig
Mögliche Form des modernen Lebens und machten daher den Unterschied zwi¬
schen humanen Völkern und Barbaren —- human war das Volk, welches jene
Formen wenigstens in sein Glaubensbekenntniß aufgenommen hatte; barbarisch, wo
das nicht geschehen war. Für die Kritik der einzelnen Staatsformen haben sie
daher auch Nichts geleistet — das gilt übrigens von der Rheinischen Zeitung,
die auf dem Gebiet der Politik die Jahrbücher ergänzte, ebenso. Im Eifer des
Kampfes schwand gar bald auch jener Unterschied; man entdeckte, daß eigentlich
die Geschichte erst mit den französischen Encyclopädisten beginne, welche die Rechte der
Menschheit proclamirt hatten und mit der Revolution, welche wenigstens den An¬
fang damit gemacht, sie in's Werk zu setzen. Die frühere Geschichte wurde, ganz
wie voll den christlichen Historikern geschehen war, als ein Zeitalter der Barbarei
verleugnet.

Die zweite Illusion war der Glaube, daß man den vernünftigen Begriff
des Staats und der Kirche nur proklamiren dürfe, um ihn sofort zu verwirklichen.
Zum Theil entsprang diese Illusion — im Princip wieder eine Consequenz des
Systems — aus der freien. Bewegung, welche seit der Thronbesteigung Friedrich
Wilhelms IV. der preußische Staat der Presse octroyirte. Wenn mau also im
Anfang so weit gegangen war, anzunehmen, der Staat, welcher doch nach
Hegel der höchste Ausdruck von der Wirklichkeit der Vernunft sein sollte,
werde sofort die rechte Form annehmen, wenn ihm dieselbe nur von Seiten der Theo¬
rie dargelegt wäre, so erwartete man später wenigstens, er werde seinerseits nichts
dagegen einzuwenden haben, wenn die Theorie durch blos geistige Mittel sich durch-
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[0321] Der Grundgedanke der Hegelschen Philosophie, daß das Wirkliche vernünftig sei, war bis dahin in einseitig theoretischem Interesse ausgebeutet worden. Man hatte es der Idee überlassen, sich in der Geschichte zu realistren und war dann hingegangen, um nachzuweisen, daß es so gut sei. Da uun aber das „Ver¬ nünftige" in einer successiven Entwickelung begriffen wurde, so lag die zweite Auf¬ fassung ucche, aus den gegebenen Prämissen sich das zunächst Vernünftige zu cvn- stnnren und dasselbe alsdann als „wirtlich" zu proklamieren, d. h. an das Leben die Forderung zu stellen, es solle sich nach dein Bilde des von der Schule als ver¬ nünftig anerkannten umgestalten. So trat das praktische Interesse, wieder Ziemlich einseitig, in den Vordergrund. Die neuen Evangelisten lebten nämlich in einer doppelten Illusion. Einmal nämlich stellten sie, ganz im Geist des Systems, das „für die jetzige Zeit Vernünftige" als etwas Absolutes, in sich Vollendetes hin; sie abstrahirten vou den bestimmten Voraussetzungen dieser Nation, dieses Staats. Im Anfang zwar unterschieden sie sich von den „ordinären Liberalen" dadurch, daß sie nicht behaupteten, diese oder jene Form des Staats, des Rechts, der Kirche n. s. w. ist das absolut Vernünftige und was dieser Form nicht ent¬ spricht, ist unvernünftig gewesen in den Zeiten des Perikles wie unter Napoleon; sie erkannten die zeitliche Bedingtheit. Wohl aber erklärten sie es für die einzig Mögliche Form des modernen Lebens und machten daher den Unterschied zwi¬ schen humanen Völkern und Barbaren —- human war das Volk, welches jene Formen wenigstens in sein Glaubensbekenntniß aufgenommen hatte; barbarisch, wo das nicht geschehen war. Für die Kritik der einzelnen Staatsformen haben sie daher auch Nichts geleistet — das gilt übrigens von der Rheinischen Zeitung, die auf dem Gebiet der Politik die Jahrbücher ergänzte, ebenso. Im Eifer des Kampfes schwand gar bald auch jener Unterschied; man entdeckte, daß eigentlich die Geschichte erst mit den französischen Encyclopädisten beginne, welche die Rechte der Menschheit proclamirt hatten und mit der Revolution, welche wenigstens den An¬ fang damit gemacht, sie in's Werk zu setzen. Die frühere Geschichte wurde, ganz wie voll den christlichen Historikern geschehen war, als ein Zeitalter der Barbarei verleugnet. Die zweite Illusion war der Glaube, daß man den vernünftigen Begriff des Staats und der Kirche nur proklamiren dürfe, um ihn sofort zu verwirklichen. Zum Theil entsprang diese Illusion — im Princip wieder eine Consequenz des Systems — aus der freien. Bewegung, welche seit der Thronbesteigung Friedrich Wilhelms IV. der preußische Staat der Presse octroyirte. Wenn mau also im Anfang so weit gegangen war, anzunehmen, der Staat, welcher doch nach Hegel der höchste Ausdruck von der Wirklichkeit der Vernunft sein sollte, werde sofort die rechte Form annehmen, wenn ihm dieselbe nur von Seiten der Theo¬ rie dargelegt wäre, so erwartete man später wenigstens, er werde seinerseits nichts dagegen einzuwenden haben, wenn die Theorie durch blos geistige Mittel sich durch- ^-N jbvtcn. II. I8is. 41

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 8, 1849, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341563_278509/321>, abgerufen am 15.01.2025.