Die Grenzboten. Jg. 8, 1849, I. Semester. II. Band.Die Physiognomie von Breslau. Der Streich ist gefallen, der seit einem Jahr unserem Haupt drohte, auch Die Physiognomie von Breslau. Der Streich ist gefallen, der seit einem Jahr unserem Haupt drohte, auch <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <div n="2"> <pb facs="#f0282" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/278792"/> </div> </div> <div n="1"> <head> Die Physiognomie von Breslau.</head><lb/> <milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/> <p xml:id="ID_884" next="#ID_885"> Der Streich ist gefallen, der seit einem Jahr unserem Haupt drohte, auch<lb/> wir haben einen Barrikadentag gehabt und der Belagerungszustand hängt mit<lb/> seinen häßlichen Fledermausflügeln über den spitzen Giebeln unserer alten<lb/> Stadt. Das Detail des hiesigen Aufruhrs ist aus den Zeitungen bekannt,<lb/> es ist so traurig als möglich und gleicht ähnlichen Momenten in anderen Städten<lb/> so sehr, daß wenig darüber zu sagen ist; doch hatte Breslau vor anderen Städ¬<lb/> ten vielleicht größere Rohheit des Pöbels, größere Bornirtheit und Feigheit der<lb/> AufHetzer und im Verhältniß zu der Masse blutiger Phrasen und Vorsätze auch<lb/> weniger Leichen zu beklagen, als andere Städte, obwohl die Anzahl der Letzteren<lb/> leider groß genug ist. Wer Breslau früher gekannt hat, die alte respektable<lb/> Stadt mit den hohen Thürmen, dem prächtigen Marktplatz, den lebenslustigen<lb/> Leuten und dem frischen Verkehr in den engen Straßen, der konnte sie seit vori¬<lb/> gem Frühjahr traurig verwandelt finden, sie sah aus, wie eine freundliche dicke<lb/> Dame, die in ihren Vermögensverhältnissen sehr heruntergekommen ist, ihr Ge¬<lb/> sicht wird sauertöpfisch, ihr Nock fadenscheinig und bettelhaft. Es war jammer¬<lb/> voll, wie die Stadt aussah; das Gedränge aus den Straßen hatte noch zugenom¬<lb/> men, aber es warm meist schmutzige, verwilderte Gesichter, unreinliche und wüste<lb/> Bärte, eingefallene Augen und faltige Wangen, die man an den slavischen Köpfen<lb/> der Einwohner zu bewundern hatte. Keine Stadt Deutschlands hat ein so zahl¬<lb/> reiches und so demoralisirtes Proletariat, als Breslau, und ich muß hinzusetzen,<lb/> in keiner Stadt ist es seit einem Jahr so furchtbar gewachsen, als hier. Das<lb/> hat mehrere Gründe. Die slavische Vergangenheit Schlesiens hat seiner Haupt¬<lb/> stadt als letztes Erbtheil eine schmutzige Armseligkeit und Mangel an Energie in<lb/> den unteren Schichten der Vermögenslosen zurückgelassen. Die Nachbarschaft Po¬<lb/> lens und die HandelsverlMnisse Schlesiens als einer Grenzprvvinz, haben große<lb/> Entwicklung der Industrie viel weniger, als einen Kleinhandel und Handwerker¬<lb/> thätigkeit begünstigt. Die Bevölkerung Breslaus besteht fast ausschließlich aus<lb/> kleinen Handwerkern, solchen, die ohne Capital von der einen Woche zur an¬<lb/> dern lebten und aus den großen Märkten der Hauptstadt und der Provinz ihre<lb/> Existenz fristeten, die immer kläglicher wurde, je fester die polnische Grenze sich<lb/> verschloß. Solche Bevölkerung kann die Verluste eines Nevolutionsjahrs nicht<lb/> überstehen, ohne die größte Einbuße an Selbstgefühl und moralischer Kraft zu<lb/> erleiden. Und dieser zahlreichste Theil der Bevölkerung, der arme zurückgekommene<lb/> Bürger, war gefährlicher, unruhiger und gesetzloser als der Arbeiter, der an re¬<lb/> gelmäßige Fabrikthätigkeit gewohnt ist, oder der junge Gesell, der am Leben noch</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0282]
Die Physiognomie von Breslau.
Der Streich ist gefallen, der seit einem Jahr unserem Haupt drohte, auch
wir haben einen Barrikadentag gehabt und der Belagerungszustand hängt mit
seinen häßlichen Fledermausflügeln über den spitzen Giebeln unserer alten
Stadt. Das Detail des hiesigen Aufruhrs ist aus den Zeitungen bekannt,
es ist so traurig als möglich und gleicht ähnlichen Momenten in anderen Städten
so sehr, daß wenig darüber zu sagen ist; doch hatte Breslau vor anderen Städ¬
ten vielleicht größere Rohheit des Pöbels, größere Bornirtheit und Feigheit der
AufHetzer und im Verhältniß zu der Masse blutiger Phrasen und Vorsätze auch
weniger Leichen zu beklagen, als andere Städte, obwohl die Anzahl der Letzteren
leider groß genug ist. Wer Breslau früher gekannt hat, die alte respektable
Stadt mit den hohen Thürmen, dem prächtigen Marktplatz, den lebenslustigen
Leuten und dem frischen Verkehr in den engen Straßen, der konnte sie seit vori¬
gem Frühjahr traurig verwandelt finden, sie sah aus, wie eine freundliche dicke
Dame, die in ihren Vermögensverhältnissen sehr heruntergekommen ist, ihr Ge¬
sicht wird sauertöpfisch, ihr Nock fadenscheinig und bettelhaft. Es war jammer¬
voll, wie die Stadt aussah; das Gedränge aus den Straßen hatte noch zugenom¬
men, aber es warm meist schmutzige, verwilderte Gesichter, unreinliche und wüste
Bärte, eingefallene Augen und faltige Wangen, die man an den slavischen Köpfen
der Einwohner zu bewundern hatte. Keine Stadt Deutschlands hat ein so zahl¬
reiches und so demoralisirtes Proletariat, als Breslau, und ich muß hinzusetzen,
in keiner Stadt ist es seit einem Jahr so furchtbar gewachsen, als hier. Das
hat mehrere Gründe. Die slavische Vergangenheit Schlesiens hat seiner Haupt¬
stadt als letztes Erbtheil eine schmutzige Armseligkeit und Mangel an Energie in
den unteren Schichten der Vermögenslosen zurückgelassen. Die Nachbarschaft Po¬
lens und die HandelsverlMnisse Schlesiens als einer Grenzprvvinz, haben große
Entwicklung der Industrie viel weniger, als einen Kleinhandel und Handwerker¬
thätigkeit begünstigt. Die Bevölkerung Breslaus besteht fast ausschließlich aus
kleinen Handwerkern, solchen, die ohne Capital von der einen Woche zur an¬
dern lebten und aus den großen Märkten der Hauptstadt und der Provinz ihre
Existenz fristeten, die immer kläglicher wurde, je fester die polnische Grenze sich
verschloß. Solche Bevölkerung kann die Verluste eines Nevolutionsjahrs nicht
überstehen, ohne die größte Einbuße an Selbstgefühl und moralischer Kraft zu
erleiden. Und dieser zahlreichste Theil der Bevölkerung, der arme zurückgekommene
Bürger, war gefährlicher, unruhiger und gesetzloser als der Arbeiter, der an re¬
gelmäßige Fabrikthätigkeit gewohnt ist, oder der junge Gesell, der am Leben noch
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