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Die Grenzboten. Jg. 8, 1849, I. Semester. II. Band.

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solche Liebhabereien bei. Gervinus mit einer Cigarre im Munde oder was ihm
sein etwas materieller Arzt zur Erheiterung oft angerathen soll, mit Behagen
hinter der Flasche, würde aufhören, Gervinus zu sein. Jene Lcbeusjungfräulich-
keit, wie sie dem Weibe uicht selten eigen ist, welche selbst ohne mit höheren
Eigenschaften gepaart zu sein, schon an und für sich jeder fremden Rohheit Ach¬
tung einflößt, verschmilzt bei ihm mit der Fülle des männlichen Geistes und dem
sittlichen Ernste des Willens zu einer Erscheinung, an welcher seine in der Wis¬
senschaft kaum weniger berühmten Freunde in Verehrung hinaufsehen und vor der
selbst die specifisch Heidelbergische unübertreffliche geistvolle Frivolität der Unter¬
haltung verstummt. Seine äußere Gestalt entspricht dabei seiner Wesenheit vollstän¬
dig. Gervinus ist groß, wohlgebaut, aber mit einer etwas weichen, schüchternen
Haltung, sein Schritt drückt uicht fest den Boden, es liegt kein besonderes Mail
in diesem Körper; imponirend an ihm ist nur der in schönen Formen fein aus¬
gemeißelte Kopf, aus dessen Physiognomie sogleich die ganze Mannigfaltigkeit des
hinter ihm wohnenden Gedankenreichthums heraustritt, wenn schon man in dem¬
selben vergebens nach einem hervorstechenden Charakterzug späht. Die Wucht der
Stirn drückt zwar um die Mundwinkel ein leichtes Lächeln; dasselbe deutet aber
weder auf Spott noch verbitterte Schärfe. Innere Kämpfe, wilde Gedankenschlach¬
ten sind nicht über das Gesicht hingezogen, seine Harmonie scheint angeboren,
nicht errungen, wie überhaupt von Künstlicher, Gemachtem, oder gar Ostentativen
bei ihm keine Rede ist. Vielmehr will es dem unbekannten Beobachter zuweilen
bedünken, als sähe Gervinus dem Leben nnr zu, als lebe er selbst nicht mit, so
abgeschlossen und fremd steht er dem gewöhnlichen Treiben der andern Menschen
gegenüber. Wenn ihn die Umstände nicht zum Sprechen zwingen, so läßt er ge¬
wiß auch kein Wort fallen. Dieses Anfichhalten ist aber in keiner Weise mit
CamphansenS abstoßendem Zngcknöpftsein oder der lauernden, jede Blöße verdecken¬
den Glätte des Herrn von Nadowitz zu vergleichen; es entspringt ans einem fei¬
nen ästhetischen Wesen, das, um nicht von Außen verletzt zu werden, sich ilei'er
selbst zurückzieht, als mit einer irritabilen Kraft den Anbringung abweist.

Daß eine solche Natur, im steten Kampfe mit einem nervösen, sast schwind¬
süchtiger Körper, nicht zu einer gewaltigen That geschaffen ist, versteht sich von
selbst. Parteiführer im eigentlichsten Sinne des Wortes ans der Tribüne, wie
auf der Gasse, wenn auch nur nach Art englischer Staatsmänner, zu sein, muß
ihr schon an und für sich unmöglich fallen, abgesehen davon, daß Gervinus auch
während seiner Docentenlaufbahn kaum das kleinste Auditorium zu beherrschen im
Stande war. Die Stube ist allein ihr Reich, allein die Feder ihre Waffe; in
einem Parlamente mußte sie verstummen. Aber trotzdem, daß Rosenkranz Gervi¬
nus nächst Schlosser, "dem Superlativ der Belesenheit," den am meisten belesenen
Gelehrten Deutschlands nennt, hat er von dem specifisch deutschen Prvfessorenwe-
sm keinen Pulsschlag in sich. Der Mann , der die Geschichte der gesammten


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solche Liebhabereien bei. Gervinus mit einer Cigarre im Munde oder was ihm
sein etwas materieller Arzt zur Erheiterung oft angerathen soll, mit Behagen
hinter der Flasche, würde aufhören, Gervinus zu sein. Jene Lcbeusjungfräulich-
keit, wie sie dem Weibe uicht selten eigen ist, welche selbst ohne mit höheren
Eigenschaften gepaart zu sein, schon an und für sich jeder fremden Rohheit Ach¬
tung einflößt, verschmilzt bei ihm mit der Fülle des männlichen Geistes und dem
sittlichen Ernste des Willens zu einer Erscheinung, an welcher seine in der Wis¬
senschaft kaum weniger berühmten Freunde in Verehrung hinaufsehen und vor der
selbst die specifisch Heidelbergische unübertreffliche geistvolle Frivolität der Unter¬
haltung verstummt. Seine äußere Gestalt entspricht dabei seiner Wesenheit vollstän¬
dig. Gervinus ist groß, wohlgebaut, aber mit einer etwas weichen, schüchternen
Haltung, sein Schritt drückt uicht fest den Boden, es liegt kein besonderes Mail
in diesem Körper; imponirend an ihm ist nur der in schönen Formen fein aus¬
gemeißelte Kopf, aus dessen Physiognomie sogleich die ganze Mannigfaltigkeit des
hinter ihm wohnenden Gedankenreichthums heraustritt, wenn schon man in dem¬
selben vergebens nach einem hervorstechenden Charakterzug späht. Die Wucht der
Stirn drückt zwar um die Mundwinkel ein leichtes Lächeln; dasselbe deutet aber
weder auf Spott noch verbitterte Schärfe. Innere Kämpfe, wilde Gedankenschlach¬
ten sind nicht über das Gesicht hingezogen, seine Harmonie scheint angeboren,
nicht errungen, wie überhaupt von Künstlicher, Gemachtem, oder gar Ostentativen
bei ihm keine Rede ist. Vielmehr will es dem unbekannten Beobachter zuweilen
bedünken, als sähe Gervinus dem Leben nnr zu, als lebe er selbst nicht mit, so
abgeschlossen und fremd steht er dem gewöhnlichen Treiben der andern Menschen
gegenüber. Wenn ihn die Umstände nicht zum Sprechen zwingen, so läßt er ge¬
wiß auch kein Wort fallen. Dieses Anfichhalten ist aber in keiner Weise mit
CamphansenS abstoßendem Zngcknöpftsein oder der lauernden, jede Blöße verdecken¬
den Glätte des Herrn von Nadowitz zu vergleichen; es entspringt ans einem fei¬
nen ästhetischen Wesen, das, um nicht von Außen verletzt zu werden, sich ilei'er
selbst zurückzieht, als mit einer irritabilen Kraft den Anbringung abweist.

Daß eine solche Natur, im steten Kampfe mit einem nervösen, sast schwind¬
süchtiger Körper, nicht zu einer gewaltigen That geschaffen ist, versteht sich von
selbst. Parteiführer im eigentlichsten Sinne des Wortes ans der Tribüne, wie
auf der Gasse, wenn auch nur nach Art englischer Staatsmänner, zu sein, muß
ihr schon an und für sich unmöglich fallen, abgesehen davon, daß Gervinus auch
während seiner Docentenlaufbahn kaum das kleinste Auditorium zu beherrschen im
Stande war. Die Stube ist allein ihr Reich, allein die Feder ihre Waffe; in
einem Parlamente mußte sie verstummen. Aber trotzdem, daß Rosenkranz Gervi¬
nus nächst Schlosser, „dem Superlativ der Belesenheit," den am meisten belesenen
Gelehrten Deutschlands nennt, hat er von dem specifisch deutschen Prvfessorenwe-
sm keinen Pulsschlag in sich. Der Mann , der die Geschichte der gesammten


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 8, 1849, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341563_278509/123>, abgerufen am 15.01.2025.