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Die Grenzboten. Jg. 8, 1849, I. Semester. II. Band.

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eigenen Weg eingeschlagen, ohne danach zu fragen, ob derselbe durch die Ge¬
schichte der vorhergegangenen Systeme gerechtfertigt und begründet sei; ja er hat
eS nicht einmal für nothwendig gehalten, das eigentliche wahre und bleibende
Princip des Hegel'schen Systems zu erforschen, indem er die Kritik desselben mit
der Erwartung schließt, daß die Zukunft die Spreu von dem Waizen sondern
werde. Aber er sieht das Studium der philosophische" Systeme als ein noth¬
wendiges Bildungsmittel an, um zur Philosophie zu gelangen, er wird unbewußt
durch sie geleitet, indem er sich Probleme und Begriffe aus ihnen geben läßt
und falsche Wege vermeiden lernt. -- Er geht in seinen Vorlesungen über Ge¬
schichte der Philosophie in zweifacher Weile ans die einzelnen Systeme ein. Er
behandelt sie theils mit einer Genauigkeit im Einzelnen, wie es die beschränkte
Zeit nur irgend zuläßt, theils trägt er sie i" solcher Form vor, daß man bei
jedem System glauben möchte, er sei selbst ein Anhänger desselben. Diese Form,
zu der man durch die genaue Beschäftigung mit dem Detail leicht verleitet wer¬
den kann, mag das Gute haben, daß der Schüler dadurch ein größeres Interesse
an dem Einzelnen gewinnt; aber sie hat den Nachtheil, daß sie den Sinn für
das Lückenhafte und Einseitige der einzelnen Systeme, für ihren Gegensatz unter
einander zu wenig schärft. Und es hilft uicht viel, wenn Trendelenburg, nachdem
er die Darstellung eines Systems beendet hat, mit erhobenem Tone wenige kriti¬
sche Bemerkungen folgen läßt, die theils äußerlich, theils uicht eindringend genng
sind. Gerade darin, daß Hermeneutik und Kritik in steter Wechselwirkung sind,
liegt etwas unendlich Bildendes, und der Historiker der Philosophie sollte diese
Kunst vor Allem zu erreichen suchen. Eine zweite Seite der akademischen Wirk¬
samkeit von Trendelenburg, die wir besonders hervorheben, weil wir wünschen,
daß er darin Nachfolger finden möchte, und die von ihm eingeführten philosophi¬
schen Uebungen, in denen er kleinere, besonders Aristotelische Abhandlungen inter-
pretiren läßt. Es mögen uicht alle Disciplinen für diese Form gleich geeignet
sein, aber die Philosophie ist es vorzugsweise. Denn sie besteht weder in der
Kenntnißnahme eines einzelnen bestimmten Systems, noch in dem Studium der
Geschichte der Philosophie, sondern in der selbstständigen Thätigkeit des Philoso-
phircns, sie ist weit mehr ein Können, als ein Wissen. Der philosophische Unter¬
richt sollte darum vorzugsweise auf formelle Bildung hinausgehen. Die erste
Bedingung dazu ist unstreitig der gemeinsame Umgang des Lehrers mit den
Schülern. Die zweite ist die, daß ein Stoff da sei , an dem das philosophische
Talent geübt werden könne. -- I" kleineren Universitätsstädten, wo ein leben-
digerer Privatverkehr zwischen Docenten und Studirenden besteht, mögen An¬
stalten dieser Art entbehrlicher sein; in Berlin sind sie fast unumgänglich nöthig"

Trendelenburg's Vorlesungen sind, theilweise wenigstens, stark besucht, ""
doch ist sein Einfluß auf die Studirenden uicht bedeutend. Er besitzt viel zi
lvenig anregende Kraft. Er gibt weder originelle Ideen, namentlich für diejent-


eigenen Weg eingeschlagen, ohne danach zu fragen, ob derselbe durch die Ge¬
schichte der vorhergegangenen Systeme gerechtfertigt und begründet sei; ja er hat
eS nicht einmal für nothwendig gehalten, das eigentliche wahre und bleibende
Princip des Hegel'schen Systems zu erforschen, indem er die Kritik desselben mit
der Erwartung schließt, daß die Zukunft die Spreu von dem Waizen sondern
werde. Aber er sieht das Studium der philosophische» Systeme als ein noth¬
wendiges Bildungsmittel an, um zur Philosophie zu gelangen, er wird unbewußt
durch sie geleitet, indem er sich Probleme und Begriffe aus ihnen geben läßt
und falsche Wege vermeiden lernt. — Er geht in seinen Vorlesungen über Ge¬
schichte der Philosophie in zweifacher Weile ans die einzelnen Systeme ein. Er
behandelt sie theils mit einer Genauigkeit im Einzelnen, wie es die beschränkte
Zeit nur irgend zuläßt, theils trägt er sie i» solcher Form vor, daß man bei
jedem System glauben möchte, er sei selbst ein Anhänger desselben. Diese Form,
zu der man durch die genaue Beschäftigung mit dem Detail leicht verleitet wer¬
den kann, mag das Gute haben, daß der Schüler dadurch ein größeres Interesse
an dem Einzelnen gewinnt; aber sie hat den Nachtheil, daß sie den Sinn für
das Lückenhafte und Einseitige der einzelnen Systeme, für ihren Gegensatz unter
einander zu wenig schärft. Und es hilft uicht viel, wenn Trendelenburg, nachdem
er die Darstellung eines Systems beendet hat, mit erhobenem Tone wenige kriti¬
sche Bemerkungen folgen läßt, die theils äußerlich, theils uicht eindringend genng
sind. Gerade darin, daß Hermeneutik und Kritik in steter Wechselwirkung sind,
liegt etwas unendlich Bildendes, und der Historiker der Philosophie sollte diese
Kunst vor Allem zu erreichen suchen. Eine zweite Seite der akademischen Wirk¬
samkeit von Trendelenburg, die wir besonders hervorheben, weil wir wünschen,
daß er darin Nachfolger finden möchte, und die von ihm eingeführten philosophi¬
schen Uebungen, in denen er kleinere, besonders Aristotelische Abhandlungen inter-
pretiren läßt. Es mögen uicht alle Disciplinen für diese Form gleich geeignet
sein, aber die Philosophie ist es vorzugsweise. Denn sie besteht weder in der
Kenntnißnahme eines einzelnen bestimmten Systems, noch in dem Studium der
Geschichte der Philosophie, sondern in der selbstständigen Thätigkeit des Philoso-
phircns, sie ist weit mehr ein Können, als ein Wissen. Der philosophische Unter¬
richt sollte darum vorzugsweise auf formelle Bildung hinausgehen. Die erste
Bedingung dazu ist unstreitig der gemeinsame Umgang des Lehrers mit den
Schülern. Die zweite ist die, daß ein Stoff da sei , an dem das philosophische
Talent geübt werden könne. — I» kleineren Universitätsstädten, wo ein leben-
digerer Privatverkehr zwischen Docenten und Studirenden besteht, mögen An¬
stalten dieser Art entbehrlicher sein; in Berlin sind sie fast unumgänglich nöthig«

Trendelenburg's Vorlesungen sind, theilweise wenigstens, stark besucht, «»
doch ist sein Einfluß auf die Studirenden uicht bedeutend. Er besitzt viel zi
lvenig anregende Kraft. Er gibt weder originelle Ideen, namentlich für diejent-


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[0106] eigenen Weg eingeschlagen, ohne danach zu fragen, ob derselbe durch die Ge¬ schichte der vorhergegangenen Systeme gerechtfertigt und begründet sei; ja er hat eS nicht einmal für nothwendig gehalten, das eigentliche wahre und bleibende Princip des Hegel'schen Systems zu erforschen, indem er die Kritik desselben mit der Erwartung schließt, daß die Zukunft die Spreu von dem Waizen sondern werde. Aber er sieht das Studium der philosophische» Systeme als ein noth¬ wendiges Bildungsmittel an, um zur Philosophie zu gelangen, er wird unbewußt durch sie geleitet, indem er sich Probleme und Begriffe aus ihnen geben läßt und falsche Wege vermeiden lernt. — Er geht in seinen Vorlesungen über Ge¬ schichte der Philosophie in zweifacher Weile ans die einzelnen Systeme ein. Er behandelt sie theils mit einer Genauigkeit im Einzelnen, wie es die beschränkte Zeit nur irgend zuläßt, theils trägt er sie i» solcher Form vor, daß man bei jedem System glauben möchte, er sei selbst ein Anhänger desselben. Diese Form, zu der man durch die genaue Beschäftigung mit dem Detail leicht verleitet wer¬ den kann, mag das Gute haben, daß der Schüler dadurch ein größeres Interesse an dem Einzelnen gewinnt; aber sie hat den Nachtheil, daß sie den Sinn für das Lückenhafte und Einseitige der einzelnen Systeme, für ihren Gegensatz unter einander zu wenig schärft. Und es hilft uicht viel, wenn Trendelenburg, nachdem er die Darstellung eines Systems beendet hat, mit erhobenem Tone wenige kriti¬ sche Bemerkungen folgen läßt, die theils äußerlich, theils uicht eindringend genng sind. Gerade darin, daß Hermeneutik und Kritik in steter Wechselwirkung sind, liegt etwas unendlich Bildendes, und der Historiker der Philosophie sollte diese Kunst vor Allem zu erreichen suchen. Eine zweite Seite der akademischen Wirk¬ samkeit von Trendelenburg, die wir besonders hervorheben, weil wir wünschen, daß er darin Nachfolger finden möchte, und die von ihm eingeführten philosophi¬ schen Uebungen, in denen er kleinere, besonders Aristotelische Abhandlungen inter- pretiren läßt. Es mögen uicht alle Disciplinen für diese Form gleich geeignet sein, aber die Philosophie ist es vorzugsweise. Denn sie besteht weder in der Kenntnißnahme eines einzelnen bestimmten Systems, noch in dem Studium der Geschichte der Philosophie, sondern in der selbstständigen Thätigkeit des Philoso- phircns, sie ist weit mehr ein Können, als ein Wissen. Der philosophische Unter¬ richt sollte darum vorzugsweise auf formelle Bildung hinausgehen. Die erste Bedingung dazu ist unstreitig der gemeinsame Umgang des Lehrers mit den Schülern. Die zweite ist die, daß ein Stoff da sei , an dem das philosophische Talent geübt werden könne. — I» kleineren Universitätsstädten, wo ein leben- digerer Privatverkehr zwischen Docenten und Studirenden besteht, mögen An¬ stalten dieser Art entbehrlicher sein; in Berlin sind sie fast unumgänglich nöthig« Trendelenburg's Vorlesungen sind, theilweise wenigstens, stark besucht, «» doch ist sein Einfluß auf die Studirenden uicht bedeutend. Er besitzt viel zi lvenig anregende Kraft. Er gibt weder originelle Ideen, namentlich für diejent-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 8, 1849, I. Semester. II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341563_278509/106>, abgerufen am 15.01.2025.