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Die Grenzboten. Jg. 8, 1849, I. Semester. I. Band.

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Abtritt nahm, hatte während der Handlung alle seine Kräfte daran gesetzt, diese
Freiheit des Sundes zu hintertreiben, und das Centrum der politischen Wirren,
deren materieller Zusammenhang sich in dem wunderlichsten Spiel wechselnder In¬
teressen verlor, fand sich in der Stimmung besonders begabter, geistreicher Naturen,
denen zwar zuweilen "die Gedanken zum Herzen heraushingen," ohne aber des¬
halb der profanen Menge verständlicher zu werden, denn sie hatten zu sehr den
Anstrich willkürlicher Caprice, den die "Gedanken" des jungen Deutschlands so
wenig verleugnen können, als die Zeit, deren Product und deren Ausdruck es war.

Zu der eben erschienenen Ausgabe des Wullenweber*) hat Gutzkow eine Vor¬
rede geschrieben, in welcher er die Kritik dadurch entwaffnet, daß er die Fehler
seines Stücks selber aufzählt, und ihm wenig mehr vindicirt, als die patriotische
Absicht. Diese Anerkenntnis kann ihm die Kritik nicht versagen. Wullenweber ist
ebenso ein Ausfluß der patriotischen Tendenzen des Jahres l847, als in Uriel
Acosta die religiösen Emancipationsgelüste der frühern Jahre, die Lichtfreunde, die
Deutschkatholiken und die Reform-Juden sich abspiegeln. Auch in seinen Dramen
verleugnet Gutzkow den Journalisten nicht. Nur machte die lichtfreundliche Tra¬
gödie mehr Glück, als die patriotische, denu religiöse Stimmungen lassen sich be¬
quemer in ein subjectives Interesse concentriren, als patriotische Forderungen; jene
machten nur den Helden confus, diese die Handlung. In einen confusen Helden
findet man sich eher, wenn er nur von Zeit zu Zeit die angemessenen Töne anschlägt.

Wenn nun Gutzkow in einer Zeit, die scheinbar vollständig in politische In¬
teressen aufgeht, sich zu seiner eigentlichen Sphäre, dem bürgerlichen, empfindse¬
ligen Familiendrama zurückwendet, so ist das ein Phänomen, welches Beachtung
verdient. Gutzkow hat den Jnstinct des Zeitgemäßen, wenn anch nicht immer das
Verständniß desselben, weil er in der Zeit befangen ist, die er schildert. Der
Ottfried ist eine Ahnung, daß die Deutschen, die im letzten Jahr über ihre Kräfte
an politischen Einfällen und Plänen ausgegeben haben, sich nachgerade mit ge¬
heimer Sehnsucht aufs Neue dem verlassenen Heerde des innerlichen Lebens zu¬
wenden werden, dessen gemüthliches Geprassel ihnen wie ein Alphorn in das Streit¬
getümmel der Parteiungen nachklingt. Nach "soviel getäuschten Hoffnungen" u. s. w.
kehrt der junge Werther, der diplomatischen Carriere müde, in den Zauberkreis
seiner Lotte zurück.

Ottfried findet sein vollständiges Verständniß erst im Ueberblick über die
Gesammtthätigkeit des Dichters; wir müssen diesen aber auf eine andere Gelegen¬
heit hinausschieben. Hier nur soviel: die Hauptaufgabe seiner Poesie ist, die in¬
nere Hohlheit und Lügenhaftigkeit seiner Zeit darzustellen. Als echtes Kind dieser
Zeit, hat er nicht immer die Kraft, dieses Gefühl zu einem objectiven Kunstwerk
abzurunden, aber von subjectiven Interesse ist jedes seiner Werke, und der Nach-



*) Jürgen Wullenweber von Carl Gutzkow. Leipzig, Lorck.

Abtritt nahm, hatte während der Handlung alle seine Kräfte daran gesetzt, diese
Freiheit des Sundes zu hintertreiben, und das Centrum der politischen Wirren,
deren materieller Zusammenhang sich in dem wunderlichsten Spiel wechselnder In¬
teressen verlor, fand sich in der Stimmung besonders begabter, geistreicher Naturen,
denen zwar zuweilen „die Gedanken zum Herzen heraushingen," ohne aber des¬
halb der profanen Menge verständlicher zu werden, denn sie hatten zu sehr den
Anstrich willkürlicher Caprice, den die „Gedanken" des jungen Deutschlands so
wenig verleugnen können, als die Zeit, deren Product und deren Ausdruck es war.

Zu der eben erschienenen Ausgabe des Wullenweber*) hat Gutzkow eine Vor¬
rede geschrieben, in welcher er die Kritik dadurch entwaffnet, daß er die Fehler
seines Stücks selber aufzählt, und ihm wenig mehr vindicirt, als die patriotische
Absicht. Diese Anerkenntnis kann ihm die Kritik nicht versagen. Wullenweber ist
ebenso ein Ausfluß der patriotischen Tendenzen des Jahres l847, als in Uriel
Acosta die religiösen Emancipationsgelüste der frühern Jahre, die Lichtfreunde, die
Deutschkatholiken und die Reform-Juden sich abspiegeln. Auch in seinen Dramen
verleugnet Gutzkow den Journalisten nicht. Nur machte die lichtfreundliche Tra¬
gödie mehr Glück, als die patriotische, denu religiöse Stimmungen lassen sich be¬
quemer in ein subjectives Interesse concentriren, als patriotische Forderungen; jene
machten nur den Helden confus, diese die Handlung. In einen confusen Helden
findet man sich eher, wenn er nur von Zeit zu Zeit die angemessenen Töne anschlägt.

Wenn nun Gutzkow in einer Zeit, die scheinbar vollständig in politische In¬
teressen aufgeht, sich zu seiner eigentlichen Sphäre, dem bürgerlichen, empfindse¬
ligen Familiendrama zurückwendet, so ist das ein Phänomen, welches Beachtung
verdient. Gutzkow hat den Jnstinct des Zeitgemäßen, wenn anch nicht immer das
Verständniß desselben, weil er in der Zeit befangen ist, die er schildert. Der
Ottfried ist eine Ahnung, daß die Deutschen, die im letzten Jahr über ihre Kräfte
an politischen Einfällen und Plänen ausgegeben haben, sich nachgerade mit ge¬
heimer Sehnsucht aufs Neue dem verlassenen Heerde des innerlichen Lebens zu¬
wenden werden, dessen gemüthliches Geprassel ihnen wie ein Alphorn in das Streit¬
getümmel der Parteiungen nachklingt. Nach „soviel getäuschten Hoffnungen" u. s. w.
kehrt der junge Werther, der diplomatischen Carriere müde, in den Zauberkreis
seiner Lotte zurück.

Ottfried findet sein vollständiges Verständniß erst im Ueberblick über die
Gesammtthätigkeit des Dichters; wir müssen diesen aber auf eine andere Gelegen¬
heit hinausschieben. Hier nur soviel: die Hauptaufgabe seiner Poesie ist, die in¬
nere Hohlheit und Lügenhaftigkeit seiner Zeit darzustellen. Als echtes Kind dieser
Zeit, hat er nicht immer die Kraft, dieses Gefühl zu einem objectiven Kunstwerk
abzurunden, aber von subjectiven Interesse ist jedes seiner Werke, und der Nach-



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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 8, 1849, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341563_277987/98>, abgerufen am 03.07.2024.