Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 8, 1849, I. Semester. I. Band.

Bild:
<< vorherige Seite

den sie eine Stunde später auf, um weniger Aerger zu haben, vermieden besuchte
Orte, und erklärten die Welt für unsinnig; seit dem October lasen sie keine Zei¬
tungen mehr und tranken zu Mittag Burgunder. Nach jedem Unglücksfall, jeder
Verirrung der Massen zog sich diese Klasse mehr in sich selbst zurück, die Interessen
des eigenen Lebens wurden Alles und dies eigene Leben wie klein, wie arm, wie
isolirt! Alle diese sind verloren; todt für unsere Zukunft, ihr Geld wird rollen
und arbeiten, sie selbst sind zu Mumien verknöchert. Und die Zahl dieser Un¬
glücklichen ist sehr groß. -- Einen seltsamen Eindruck aber macht die Härte und
Gleichgültigkeit gegen Tod und Todten, welche in die Masse des Volkes ge¬
kommen ist. In diesen rohen Seelen voll lebhafter Empfindung hat der "Partei¬
geist" furchtbare Verwüstungen angerichtet; die Achtung vor dem Gesetz ist mit
der Furcht vor seinen Strafen verschwunden, der sonst so richtige Instinkt für das
Rechte und Gute ist in die ärgste Verwirrung gebracht, die erste leidenschaftliche
Ausnahme der Phrasen und politischen Stichwörter des Tages hat einen Fanatis¬
mus entzündet, von dem nur zu bewundern ist, wie er sich bei so schwacher Nah¬
rung erhalten kann, als die Reden unserer Demagogen sind. -- Wir haben mit
Schaudern gesehen, wie schnell und wie tief die Entsittlichung der Massen um sich
gegriffen hat.

Und fragen wir noch einmal: woher diese Erscheinungen, weshalb durfte die
Würde des Menschen, der Werth des Lebens sich in solchem Grade verringern?
'so ist die kurze Antwort: Dies ist geschehen, weil der Werth, die Achtung vor
dem Staat und seinen Gesetzen sich verringert hat. Das Menschenleben ist nichts
werth ohne festes Gesetz, die Ehrfurcht vor dem Gesetz ist der Gradmesser, nach
welchem man sicher Werth und Würde einer Generation messen kann. Und
wenn deshalb Misere Partei drängt und treibt, daß schnell und nach allen Rich-
tungen durch gesetzliche Bestimmungen die Keime neuen Lebens gezogen werden,
wenn wir es für verhältnißmäßig unwichtig halten, ob hier und da ein einzel¬
ner Paragraph zweckmäßig, eine einzelne Forderung gehörig sicher und verklau-
sulirt wird, so drängen wir zu schneller Organisation nicht nur aus Gründen der
Politik, sondern wiel wir uus fürchten und schaudern vor der Möglichkeit, daß
das Selbstgefühl eines edlen Mannes ihn verführen könne, sein eignes Volk zu
hassen und zu verachten, daß der Gebildete sich ablösen könne von seinem Volk,
zum Unheil für Beide. Wir wollen keinen Göthe mehr, wir wollen leinen Na¬
poleon. Von dem Gott des neuen Jahres aber, welcher über unseren Häuptern
dahinzieht, erflehen wir glückliche Stunden, Einigkeit und Entschlossenheit für
unsere Gesetzgeber und unser Volk.




den sie eine Stunde später auf, um weniger Aerger zu haben, vermieden besuchte
Orte, und erklärten die Welt für unsinnig; seit dem October lasen sie keine Zei¬
tungen mehr und tranken zu Mittag Burgunder. Nach jedem Unglücksfall, jeder
Verirrung der Massen zog sich diese Klasse mehr in sich selbst zurück, die Interessen
des eigenen Lebens wurden Alles und dies eigene Leben wie klein, wie arm, wie
isolirt! Alle diese sind verloren; todt für unsere Zukunft, ihr Geld wird rollen
und arbeiten, sie selbst sind zu Mumien verknöchert. Und die Zahl dieser Un¬
glücklichen ist sehr groß. — Einen seltsamen Eindruck aber macht die Härte und
Gleichgültigkeit gegen Tod und Todten, welche in die Masse des Volkes ge¬
kommen ist. In diesen rohen Seelen voll lebhafter Empfindung hat der „Partei¬
geist" furchtbare Verwüstungen angerichtet; die Achtung vor dem Gesetz ist mit
der Furcht vor seinen Strafen verschwunden, der sonst so richtige Instinkt für das
Rechte und Gute ist in die ärgste Verwirrung gebracht, die erste leidenschaftliche
Ausnahme der Phrasen und politischen Stichwörter des Tages hat einen Fanatis¬
mus entzündet, von dem nur zu bewundern ist, wie er sich bei so schwacher Nah¬
rung erhalten kann, als die Reden unserer Demagogen sind. — Wir haben mit
Schaudern gesehen, wie schnell und wie tief die Entsittlichung der Massen um sich
gegriffen hat.

Und fragen wir noch einmal: woher diese Erscheinungen, weshalb durfte die
Würde des Menschen, der Werth des Lebens sich in solchem Grade verringern?
'so ist die kurze Antwort: Dies ist geschehen, weil der Werth, die Achtung vor
dem Staat und seinen Gesetzen sich verringert hat. Das Menschenleben ist nichts
werth ohne festes Gesetz, die Ehrfurcht vor dem Gesetz ist der Gradmesser, nach
welchem man sicher Werth und Würde einer Generation messen kann. Und
wenn deshalb Misere Partei drängt und treibt, daß schnell und nach allen Rich-
tungen durch gesetzliche Bestimmungen die Keime neuen Lebens gezogen werden,
wenn wir es für verhältnißmäßig unwichtig halten, ob hier und da ein einzel¬
ner Paragraph zweckmäßig, eine einzelne Forderung gehörig sicher und verklau-
sulirt wird, so drängen wir zu schneller Organisation nicht nur aus Gründen der
Politik, sondern wiel wir uus fürchten und schaudern vor der Möglichkeit, daß
das Selbstgefühl eines edlen Mannes ihn verführen könne, sein eignes Volk zu
hassen und zu verachten, daß der Gebildete sich ablösen könne von seinem Volk,
zum Unheil für Beide. Wir wollen keinen Göthe mehr, wir wollen leinen Na¬
poleon. Von dem Gott des neuen Jahres aber, welcher über unseren Häuptern
dahinzieht, erflehen wir glückliche Stunden, Einigkeit und Entschlossenheit für
unsere Gesetzgeber und unser Volk.




<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0056" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/278044"/>
          <p xml:id="ID_156" prev="#ID_155"> den sie eine Stunde später auf, um weniger Aerger zu haben, vermieden besuchte<lb/>
Orte, und erklärten die Welt für unsinnig; seit dem October lasen sie keine Zei¬<lb/>
tungen mehr und tranken zu Mittag Burgunder. Nach jedem Unglücksfall, jeder<lb/>
Verirrung der Massen zog sich diese Klasse mehr in sich selbst zurück, die Interessen<lb/>
des eigenen Lebens wurden Alles und dies eigene Leben wie klein, wie arm, wie<lb/>
isolirt! Alle diese sind verloren; todt für unsere Zukunft, ihr Geld wird rollen<lb/>
und arbeiten, sie selbst sind zu Mumien verknöchert. Und die Zahl dieser Un¬<lb/>
glücklichen ist sehr groß. &#x2014; Einen seltsamen Eindruck aber macht die Härte und<lb/>
Gleichgültigkeit gegen Tod und Todten, welche in die Masse des Volkes ge¬<lb/>
kommen ist. In diesen rohen Seelen voll lebhafter Empfindung hat der &#x201E;Partei¬<lb/>
geist" furchtbare Verwüstungen angerichtet; die Achtung vor dem Gesetz ist mit<lb/>
der Furcht vor seinen Strafen verschwunden, der sonst so richtige Instinkt für das<lb/>
Rechte und Gute ist in die ärgste Verwirrung gebracht, die erste leidenschaftliche<lb/>
Ausnahme der Phrasen und politischen Stichwörter des Tages hat einen Fanatis¬<lb/>
mus entzündet, von dem nur zu bewundern ist, wie er sich bei so schwacher Nah¬<lb/>
rung erhalten kann, als die Reden unserer Demagogen sind. &#x2014; Wir haben mit<lb/>
Schaudern gesehen, wie schnell und wie tief die Entsittlichung der Massen um sich<lb/>
gegriffen hat.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_157"> Und fragen wir noch einmal: woher diese Erscheinungen, weshalb durfte die<lb/>
Würde des Menschen, der Werth des Lebens sich in solchem Grade verringern?<lb/>
'so ist die kurze Antwort: Dies ist geschehen, weil der Werth, die Achtung vor<lb/>
dem Staat und seinen Gesetzen sich verringert hat. Das Menschenleben ist nichts<lb/>
werth ohne festes Gesetz, die Ehrfurcht vor dem Gesetz ist der Gradmesser, nach<lb/>
welchem man sicher Werth und Würde einer Generation messen kann. Und<lb/>
wenn deshalb Misere Partei drängt und treibt, daß schnell und nach allen Rich-<lb/>
tungen durch gesetzliche Bestimmungen die Keime neuen Lebens gezogen werden,<lb/>
wenn wir es für verhältnißmäßig unwichtig halten, ob hier und da ein einzel¬<lb/>
ner Paragraph zweckmäßig, eine einzelne Forderung gehörig sicher und verklau-<lb/>
sulirt wird, so drängen wir zu schneller Organisation nicht nur aus Gründen der<lb/>
Politik, sondern wiel wir uus fürchten und schaudern vor der Möglichkeit, daß<lb/>
das Selbstgefühl eines edlen Mannes ihn verführen könne, sein eignes Volk zu<lb/>
hassen und zu verachten, daß der Gebildete sich ablösen könne von seinem Volk,<lb/>
zum Unheil für Beide. Wir wollen keinen Göthe mehr, wir wollen leinen Na¬<lb/>
poleon. Von dem Gott des neuen Jahres aber, welcher über unseren Häuptern<lb/>
dahinzieht, erflehen wir glückliche Stunden, Einigkeit und Entschlossenheit für<lb/>
unsere Gesetzgeber und unser Volk.</p><lb/>
          <milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0056] den sie eine Stunde später auf, um weniger Aerger zu haben, vermieden besuchte Orte, und erklärten die Welt für unsinnig; seit dem October lasen sie keine Zei¬ tungen mehr und tranken zu Mittag Burgunder. Nach jedem Unglücksfall, jeder Verirrung der Massen zog sich diese Klasse mehr in sich selbst zurück, die Interessen des eigenen Lebens wurden Alles und dies eigene Leben wie klein, wie arm, wie isolirt! Alle diese sind verloren; todt für unsere Zukunft, ihr Geld wird rollen und arbeiten, sie selbst sind zu Mumien verknöchert. Und die Zahl dieser Un¬ glücklichen ist sehr groß. — Einen seltsamen Eindruck aber macht die Härte und Gleichgültigkeit gegen Tod und Todten, welche in die Masse des Volkes ge¬ kommen ist. In diesen rohen Seelen voll lebhafter Empfindung hat der „Partei¬ geist" furchtbare Verwüstungen angerichtet; die Achtung vor dem Gesetz ist mit der Furcht vor seinen Strafen verschwunden, der sonst so richtige Instinkt für das Rechte und Gute ist in die ärgste Verwirrung gebracht, die erste leidenschaftliche Ausnahme der Phrasen und politischen Stichwörter des Tages hat einen Fanatis¬ mus entzündet, von dem nur zu bewundern ist, wie er sich bei so schwacher Nah¬ rung erhalten kann, als die Reden unserer Demagogen sind. — Wir haben mit Schaudern gesehen, wie schnell und wie tief die Entsittlichung der Massen um sich gegriffen hat. Und fragen wir noch einmal: woher diese Erscheinungen, weshalb durfte die Würde des Menschen, der Werth des Lebens sich in solchem Grade verringern? 'so ist die kurze Antwort: Dies ist geschehen, weil der Werth, die Achtung vor dem Staat und seinen Gesetzen sich verringert hat. Das Menschenleben ist nichts werth ohne festes Gesetz, die Ehrfurcht vor dem Gesetz ist der Gradmesser, nach welchem man sicher Werth und Würde einer Generation messen kann. Und wenn deshalb Misere Partei drängt und treibt, daß schnell und nach allen Rich- tungen durch gesetzliche Bestimmungen die Keime neuen Lebens gezogen werden, wenn wir es für verhältnißmäßig unwichtig halten, ob hier und da ein einzel¬ ner Paragraph zweckmäßig, eine einzelne Forderung gehörig sicher und verklau- sulirt wird, so drängen wir zu schneller Organisation nicht nur aus Gründen der Politik, sondern wiel wir uus fürchten und schaudern vor der Möglichkeit, daß das Selbstgefühl eines edlen Mannes ihn verführen könne, sein eignes Volk zu hassen und zu verachten, daß der Gebildete sich ablösen könne von seinem Volk, zum Unheil für Beide. Wir wollen keinen Göthe mehr, wir wollen leinen Na¬ poleon. Von dem Gott des neuen Jahres aber, welcher über unseren Häuptern dahinzieht, erflehen wir glückliche Stunden, Einigkeit und Entschlossenheit für unsere Gesetzgeber und unser Volk.

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341563_277987
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341563_277987/56
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 8, 1849, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341563_277987/56>, abgerufen am 22.12.2024.