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Die Grenzboten. Jg. 8, 1849, I. Semester. I. Band.

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Preußische Briefe.



Vierter Vries.
Der 18. März.

Der Jahrestag der unglückseligen Barrikaden steht vor der Thür. Mit ernster
Besorgniß sieht ihm die Regierung entgegen; die Vorsichtsmaßregeln werden ver¬
doppelt, jede Bewegung der Demokratie mit argwöhnischen Auge verfolgt. Die
Demokraten zürnen über diesen Argwohn, und doch müssen sie es im Stillen ein¬
gestehen, daß die Maßregeln des Ministeriums nicht der unbedeutendste Grund
sind, jeden Gedanken an einen revolutionären Versuch als Thorheit fallen zu lassen.
Die Stadt wird in Bewegung sein, aber nur in einer Bewegung der Neugierde.

Das ereignißreichste Jahr der preußischen Geschichte liegt hinter uus. Es
ist der Mühe werth, einen Blick rückwärts zu werfen, um die Ereignisse, denen
wir uns, unter dem augenblicklichen Eindruck befangen, in wechselnder Stimmung
hingeben, in ruhigem Zusammenhange zu übersehen. Was wir damals nur mit
Leidenschaft, in Hoffnung oder Furcht, auffassen konnten, wird sich jetzt im Be¬
wußtsein der Nothwendigkeit darstellen.

Die Krone hatte den großen Fehler begangen, sich die Concessionen, die sie
am Vormittag des 28. März machte, abbringen zu lassen, anstatt dem Volk, das
trotz aller Opposition gegen das büreaukratische Regiment des Staats immer die
alte Loyalität bewahrt hatte, mit einem großherzigen Entschluß entgegen zu kom¬
men. Nur zum Theil war die Abneigung gegen das constitutionelle System an
dieser Zögerung Schuld, es spielte auch eine gewisse romantische Pietät daneben.
Der König war aufrichtig deutsch gesinnt, und hätte gern den Augenblick zu einer
Regeneration des deutschen Gesammtvaterlandes benutzt, aber er wollte die Etikette
nicht verletzen, er wollte mit dem Hause Oestreich gemeinschaftlich handeln. So
verlor er die Initiative; nach der Heidelberger Versammlung der "Volksmänner,"
aus denen das gemeinsame Handeln der kleinen constitutionellen Staaten in der
deutschen Sache, später das revolutionäre Vorparlament hervorging, und nach
dem Sturze Metternich's in Wien, kam die Proclamation des Königs, in welcher


Gr-nzbotcn. l. ßl
Preußische Briefe.



Vierter Vries.
Der 18. März.

Der Jahrestag der unglückseligen Barrikaden steht vor der Thür. Mit ernster
Besorgniß sieht ihm die Regierung entgegen; die Vorsichtsmaßregeln werden ver¬
doppelt, jede Bewegung der Demokratie mit argwöhnischen Auge verfolgt. Die
Demokraten zürnen über diesen Argwohn, und doch müssen sie es im Stillen ein¬
gestehen, daß die Maßregeln des Ministeriums nicht der unbedeutendste Grund
sind, jeden Gedanken an einen revolutionären Versuch als Thorheit fallen zu lassen.
Die Stadt wird in Bewegung sein, aber nur in einer Bewegung der Neugierde.

Das ereignißreichste Jahr der preußischen Geschichte liegt hinter uus. Es
ist der Mühe werth, einen Blick rückwärts zu werfen, um die Ereignisse, denen
wir uns, unter dem augenblicklichen Eindruck befangen, in wechselnder Stimmung
hingeben, in ruhigem Zusammenhange zu übersehen. Was wir damals nur mit
Leidenschaft, in Hoffnung oder Furcht, auffassen konnten, wird sich jetzt im Be¬
wußtsein der Nothwendigkeit darstellen.

Die Krone hatte den großen Fehler begangen, sich die Concessionen, die sie
am Vormittag des 28. März machte, abbringen zu lassen, anstatt dem Volk, das
trotz aller Opposition gegen das büreaukratische Regiment des Staats immer die
alte Loyalität bewahrt hatte, mit einem großherzigen Entschluß entgegen zu kom¬
men. Nur zum Theil war die Abneigung gegen das constitutionelle System an
dieser Zögerung Schuld, es spielte auch eine gewisse romantische Pietät daneben.
Der König war aufrichtig deutsch gesinnt, und hätte gern den Augenblick zu einer
Regeneration des deutschen Gesammtvaterlandes benutzt, aber er wollte die Etikette
nicht verletzen, er wollte mit dem Hause Oestreich gemeinschaftlich handeln. So
verlor er die Initiative; nach der Heidelberger Versammlung der „Volksmänner,"
aus denen das gemeinsame Handeln der kleinen constitutionellen Staaten in der
deutschen Sache, später das revolutionäre Vorparlament hervorging, und nach
dem Sturze Metternich's in Wien, kam die Proclamation des Königs, in welcher


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[0489] Preußische Briefe. Vierter Vries. Der 18. März. Der Jahrestag der unglückseligen Barrikaden steht vor der Thür. Mit ernster Besorgniß sieht ihm die Regierung entgegen; die Vorsichtsmaßregeln werden ver¬ doppelt, jede Bewegung der Demokratie mit argwöhnischen Auge verfolgt. Die Demokraten zürnen über diesen Argwohn, und doch müssen sie es im Stillen ein¬ gestehen, daß die Maßregeln des Ministeriums nicht der unbedeutendste Grund sind, jeden Gedanken an einen revolutionären Versuch als Thorheit fallen zu lassen. Die Stadt wird in Bewegung sein, aber nur in einer Bewegung der Neugierde. Das ereignißreichste Jahr der preußischen Geschichte liegt hinter uus. Es ist der Mühe werth, einen Blick rückwärts zu werfen, um die Ereignisse, denen wir uns, unter dem augenblicklichen Eindruck befangen, in wechselnder Stimmung hingeben, in ruhigem Zusammenhange zu übersehen. Was wir damals nur mit Leidenschaft, in Hoffnung oder Furcht, auffassen konnten, wird sich jetzt im Be¬ wußtsein der Nothwendigkeit darstellen. Die Krone hatte den großen Fehler begangen, sich die Concessionen, die sie am Vormittag des 28. März machte, abbringen zu lassen, anstatt dem Volk, das trotz aller Opposition gegen das büreaukratische Regiment des Staats immer die alte Loyalität bewahrt hatte, mit einem großherzigen Entschluß entgegen zu kom¬ men. Nur zum Theil war die Abneigung gegen das constitutionelle System an dieser Zögerung Schuld, es spielte auch eine gewisse romantische Pietät daneben. Der König war aufrichtig deutsch gesinnt, und hätte gern den Augenblick zu einer Regeneration des deutschen Gesammtvaterlandes benutzt, aber er wollte die Etikette nicht verletzen, er wollte mit dem Hause Oestreich gemeinschaftlich handeln. So verlor er die Initiative; nach der Heidelberger Versammlung der „Volksmänner," aus denen das gemeinsame Handeln der kleinen constitutionellen Staaten in der deutschen Sache, später das revolutionäre Vorparlament hervorging, und nach dem Sturze Metternich's in Wien, kam die Proclamation des Königs, in welcher Gr-nzbotcn. l. ßl

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 8, 1849, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341563_277987/489>, abgerufen am 27.11.2024.