Die Grenzboten. Jg. 8, 1849, I. Semester. I. Band.unendlichen Fülle von interessanten, Detail! Ueber der Menge aber einzelne große Und das thut ihm Noth, denn bis jetzt war das Charakterisiren nicht die unendlichen Fülle von interessanten, Detail! Ueber der Menge aber einzelne große Und das thut ihm Noth, denn bis jetzt war das Charakterisiren nicht die <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0424" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/278412"/> <p xml:id="ID_2526" prev="#ID_2525"> unendlichen Fülle von interessanten, Detail! Ueber der Menge aber einzelne große<lb/> Persönlichkeiten, die Leiter der Bewegung, in beständigem Kampf und Gegensatz;<lb/> jede Regung ihrer Seele von einer ganzen Nation begutachtet, jede Muskel ihres<lb/> Antlitzes vou Tausenden durchforscht! — Und wieder über den Menschen schwebt der<lb/> Kampf der Ideen und Principien, das Suchen und Ringen nach Vernunft und<lb/> Wahrheit; über den Leidenschaften der Personen, die Gewalt eines „Ganzen", ein<lb/> Lichtstrahl, welcher ans allen Parteifarben zusammengesetzt dcchinschießt, die Ein¬<lb/> zelnen Farben in sich sammelnd und vernichtend, eine Verbindung der Ereignisse,<lb/> welche die Stärksten besiegt und bestraft. — Es ist eine große neue Welt von<lb/> Stoffen, welche sich aufgeschlossen hat und nothwendig werden sie in der Kunst<lb/> sich geltend machen. Zunächst muß der Künstler die Fähigkeit erwerben, statt der<lb/> unbeweglichen Situationen fortschreitende Handlungen darzustellen; er empfindet<lb/> überall die Bewegung der Einzelnen, bei jeder Volksversammlung sieht er den<lb/> Zusammenhang zwischen Ohr und Mund, die Wechselwirkung der Menschen auf<lb/> einander, er erlebt in jeder Stunde Thaten und erkennt ihre Rückwirkung auf den<lb/> Handelnden und ihre Bedeutung für Andere. — Er sieht die Wirkung von Lei¬<lb/> denschaften aller Art auf deu Gesichtern und den Linien des Körpers, beobachtet<lb/> ihren Verlauf, ihre Sprünge und Fortschritte bis zum Moment, wo der Streich<lb/> geführt, der Dolch gezückt oder die Umarmung geschlossen wird, das muß ihm<lb/> Fertigkeit geben, die Leidenschaft in ihrem Ausdruck und Fortschritt darzustellen.<lb/> Aber es sind fast immer traurige und zornige Klänge, in denen sie dahinbraust,<lb/> finstere Mienen und wüthende Thaten; für Liebesentzücken und glänzenden Genuß<lb/> ist jetzt wenig Raum in der Welt; wir werden also die weiblichen Leiden¬<lb/> schaften : Liebe, Eifersucht, Neid in den Kunstwerken der nächsten Generation weni¬<lb/> ger zu suchen haben, als den Enthusiasmus, den Zorn, die Rachsucht, den Haß<lb/> der Männer. Und das wird gut sei», denn unsrer Kunst ist's bis jetzt mit den<lb/> Frauen noch besser, als mit den Männern geglückt. — Bei der Beobachtung<lb/> der Leidenschaft muß der Künstler auf die Person blicken, ans welcher sie quillt,<lb/> dieselbe Empfindung äußert sich unendlich verschieden nach der Individualität;<lb/> und in den Individuen lebt doch bei größter Mannigfaltigkeit so vieles Aehn-<lb/> liche, Wiederkehrende, Typische. Die Lebensäußerungen der Menschen sind<lb/> mannigfaltiger, ihre Beziehungen zu Andern pikanter geworden. Das Charakte¬<lb/> ristische, wie eS der Künstler braucht, fällt ihm überall in die Seele.</p><lb/> <p xml:id="ID_2527" next="#ID_2528"> Und das thut ihm Noth, denn bis jetzt war das Charakterisiren nicht die<lb/> Stärke unsrer Schaffenden. Mit einzelnen Wunderlichkeiten, einer auffallenden<lb/> Nase, einigen schnurrigen Redensarten oder burlesken Verzerrungen des Körpers<lb/> pflegten Genremaler, Dichter und Schauspieler ihre Personen abzumachen, das Pu-<lb/> blicum selbst beobachtet jetzt scharf, es wird fortan die Controlle führen. — Die<lb/> lebhaftesten Einwirkungen ans die Phantasie des Künstlers müssen aber die wechseln¬<lb/> den Gruppen, die außerordentlichen Scenen ausüben, welche auf unsern Markt-</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0424]
unendlichen Fülle von interessanten, Detail! Ueber der Menge aber einzelne große
Persönlichkeiten, die Leiter der Bewegung, in beständigem Kampf und Gegensatz;
jede Regung ihrer Seele von einer ganzen Nation begutachtet, jede Muskel ihres
Antlitzes vou Tausenden durchforscht! — Und wieder über den Menschen schwebt der
Kampf der Ideen und Principien, das Suchen und Ringen nach Vernunft und
Wahrheit; über den Leidenschaften der Personen, die Gewalt eines „Ganzen", ein
Lichtstrahl, welcher ans allen Parteifarben zusammengesetzt dcchinschießt, die Ein¬
zelnen Farben in sich sammelnd und vernichtend, eine Verbindung der Ereignisse,
welche die Stärksten besiegt und bestraft. — Es ist eine große neue Welt von
Stoffen, welche sich aufgeschlossen hat und nothwendig werden sie in der Kunst
sich geltend machen. Zunächst muß der Künstler die Fähigkeit erwerben, statt der
unbeweglichen Situationen fortschreitende Handlungen darzustellen; er empfindet
überall die Bewegung der Einzelnen, bei jeder Volksversammlung sieht er den
Zusammenhang zwischen Ohr und Mund, die Wechselwirkung der Menschen auf
einander, er erlebt in jeder Stunde Thaten und erkennt ihre Rückwirkung auf den
Handelnden und ihre Bedeutung für Andere. — Er sieht die Wirkung von Lei¬
denschaften aller Art auf deu Gesichtern und den Linien des Körpers, beobachtet
ihren Verlauf, ihre Sprünge und Fortschritte bis zum Moment, wo der Streich
geführt, der Dolch gezückt oder die Umarmung geschlossen wird, das muß ihm
Fertigkeit geben, die Leidenschaft in ihrem Ausdruck und Fortschritt darzustellen.
Aber es sind fast immer traurige und zornige Klänge, in denen sie dahinbraust,
finstere Mienen und wüthende Thaten; für Liebesentzücken und glänzenden Genuß
ist jetzt wenig Raum in der Welt; wir werden also die weiblichen Leiden¬
schaften : Liebe, Eifersucht, Neid in den Kunstwerken der nächsten Generation weni¬
ger zu suchen haben, als den Enthusiasmus, den Zorn, die Rachsucht, den Haß
der Männer. Und das wird gut sei», denn unsrer Kunst ist's bis jetzt mit den
Frauen noch besser, als mit den Männern geglückt. — Bei der Beobachtung
der Leidenschaft muß der Künstler auf die Person blicken, ans welcher sie quillt,
dieselbe Empfindung äußert sich unendlich verschieden nach der Individualität;
und in den Individuen lebt doch bei größter Mannigfaltigkeit so vieles Aehn-
liche, Wiederkehrende, Typische. Die Lebensäußerungen der Menschen sind
mannigfaltiger, ihre Beziehungen zu Andern pikanter geworden. Das Charakte¬
ristische, wie eS der Künstler braucht, fällt ihm überall in die Seele.
Und das thut ihm Noth, denn bis jetzt war das Charakterisiren nicht die
Stärke unsrer Schaffenden. Mit einzelnen Wunderlichkeiten, einer auffallenden
Nase, einigen schnurrigen Redensarten oder burlesken Verzerrungen des Körpers
pflegten Genremaler, Dichter und Schauspieler ihre Personen abzumachen, das Pu-
blicum selbst beobachtet jetzt scharf, es wird fortan die Controlle führen. — Die
lebhaftesten Einwirkungen ans die Phantasie des Künstlers müssen aber die wechseln¬
den Gruppen, die außerordentlichen Scenen ausüben, welche auf unsern Markt-
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