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Die Grenzboten. Jg. 8, 1849, I. Semester. I. Band.

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von Paris, nach bekannten Theaterstücken Rede, Napoleon zu spielen und der
neue Präsident greift in ihre Rollen.

Der Carneval hat Paris sehr trübe gesunden, mürrisch und reaktionär. Kein
Fastnachtsochs, keine Masken ans den Boulevards. Es ist eine ungeheure Ver¬
änderung in den Seelen der Pariser vorgegangen. Auf echt deutsche Weise run¬
zeln sie jetzt die Stirnen, kneifen die Augen zusammen und raisonniren über ihre
Februarrevolution, über all die tolle Verwirrung und den Mangel an Gemüth¬
lichkeit in Paris, welche sie schmerzlich vermissen, wenn ihnen auch das Wort
dafür fehlt.

Die Februarrevolution war für sie Alle ein so unerwartetes, so überraschen"
des Ereigniß, daß sich bei den Meisten noch jetzt kein Urtheil darüber hat bilden
können. Wie eS geschehen konnte, daß eine festbegründete Monarchie inmitten
einer ansehnlichen Waffenmacht, von alten kriegsersahrnen Heerführern und von
einem blühenden tapfern Fürstenhause umgeben, in wenig Stunden unter dem
bloßen Anhauch des Volksunwillens zusammenbrach und wie Spreu in alle Winde
zerstob, ist freilich räthselhaft und wunderbar. Dieses Räthselhafte aber nach dem
Zusammenhange der Thatsachen zu erforschen, dazu bequemen sich doch nur die Wenig¬
sten hier zu Lande, wo die Parteien sich schroff gegenüberstehen und die Betheiligung
keinen' unbefangenen Blick zuläßt. Die Meisten, und namentlich die Opfer der
Umwälzung, betrachten das letzte Jahr als eine reine Kalamität; für sie ist die
bewegende Triebfeder Aufsässigkeit, Muthwillen, Leichtsinn, ja Langeweile; das
Factum ein Handstreich, ein Zufall; sein Charakter ruchloser Undank. Hatte doch
Jahrs zuvor schon Lamartine das bedeutsame Wort ausgesprochen: I^-t k?i-iuic"z
"'".'liniiie. In dem rauschenden Paris verwischte der nahe liegende Begriff der
Langeweile den ernstern des Ueberdrusses, der dahinter lag, so lange, bis plötzlich
die Jnvolution "In appris erschien.

Freilich fühlt man sich geneigt, die politischen Unruhen aller Zeiten in Frank¬
reich dem Leichtsinn oder der Ungeduld der Nation zur Last zu legen. Wenn
die Franzosen, das unruhige Volk, ein Ministerium ändern wollen, sangen sie da¬
mit an, die Regierung zu stürzen. Am 24. Februar berief der König Odilon
Barrot in's Ministerium: am 24. December beruft ihn der Präsident der Repu¬
blik. Was dazwischen liegt war also Uebereilung, und der Gewinn eine derbe
und leider etwas theuer bezahlte Lehre; die Sachen stehn gerade wieder so, wie
sie vormals standen, nur mit dem Unterschiede, daß das Land damals in blühen¬
dem Zustande war und jetzt in zerrütteten Umständen ist. So spricht der Bür¬
ger hier häusig und schwermüthig.

Hören sie bei der Gelegenheit auch ein englisches Blatt, das jüngst dasselbe
Thema behandelte:

Statt den Staatswagen, der am abschüssigen Rande des Abgrunds auszuglei¬
ten drohte, zurückzuhalten, stürzten ihn die Franzosen vollends hinab; sie verlang-


von Paris, nach bekannten Theaterstücken Rede, Napoleon zu spielen und der
neue Präsident greift in ihre Rollen.

Der Carneval hat Paris sehr trübe gesunden, mürrisch und reaktionär. Kein
Fastnachtsochs, keine Masken ans den Boulevards. Es ist eine ungeheure Ver¬
änderung in den Seelen der Pariser vorgegangen. Auf echt deutsche Weise run¬
zeln sie jetzt die Stirnen, kneifen die Augen zusammen und raisonniren über ihre
Februarrevolution, über all die tolle Verwirrung und den Mangel an Gemüth¬
lichkeit in Paris, welche sie schmerzlich vermissen, wenn ihnen auch das Wort
dafür fehlt.

Die Februarrevolution war für sie Alle ein so unerwartetes, so überraschen»
des Ereigniß, daß sich bei den Meisten noch jetzt kein Urtheil darüber hat bilden
können. Wie eS geschehen konnte, daß eine festbegründete Monarchie inmitten
einer ansehnlichen Waffenmacht, von alten kriegsersahrnen Heerführern und von
einem blühenden tapfern Fürstenhause umgeben, in wenig Stunden unter dem
bloßen Anhauch des Volksunwillens zusammenbrach und wie Spreu in alle Winde
zerstob, ist freilich räthselhaft und wunderbar. Dieses Räthselhafte aber nach dem
Zusammenhange der Thatsachen zu erforschen, dazu bequemen sich doch nur die Wenig¬
sten hier zu Lande, wo die Parteien sich schroff gegenüberstehen und die Betheiligung
keinen' unbefangenen Blick zuläßt. Die Meisten, und namentlich die Opfer der
Umwälzung, betrachten das letzte Jahr als eine reine Kalamität; für sie ist die
bewegende Triebfeder Aufsässigkeit, Muthwillen, Leichtsinn, ja Langeweile; das
Factum ein Handstreich, ein Zufall; sein Charakter ruchloser Undank. Hatte doch
Jahrs zuvor schon Lamartine das bedeutsame Wort ausgesprochen: I^-t k?i-iuic«z
»'«.'liniiie. In dem rauschenden Paris verwischte der nahe liegende Begriff der
Langeweile den ernstern des Ueberdrusses, der dahinter lag, so lange, bis plötzlich
die Jnvolution «In appris erschien.

Freilich fühlt man sich geneigt, die politischen Unruhen aller Zeiten in Frank¬
reich dem Leichtsinn oder der Ungeduld der Nation zur Last zu legen. Wenn
die Franzosen, das unruhige Volk, ein Ministerium ändern wollen, sangen sie da¬
mit an, die Regierung zu stürzen. Am 24. Februar berief der König Odilon
Barrot in's Ministerium: am 24. December beruft ihn der Präsident der Repu¬
blik. Was dazwischen liegt war also Uebereilung, und der Gewinn eine derbe
und leider etwas theuer bezahlte Lehre; die Sachen stehn gerade wieder so, wie
sie vormals standen, nur mit dem Unterschiede, daß das Land damals in blühen¬
dem Zustande war und jetzt in zerrütteten Umständen ist. So spricht der Bür¬
ger hier häusig und schwermüthig.

Hören sie bei der Gelegenheit auch ein englisches Blatt, das jüngst dasselbe
Thema behandelte:

Statt den Staatswagen, der am abschüssigen Rande des Abgrunds auszuglei¬
ten drohte, zurückzuhalten, stürzten ihn die Franzosen vollends hinab; sie verlang-


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[0404] von Paris, nach bekannten Theaterstücken Rede, Napoleon zu spielen und der neue Präsident greift in ihre Rollen. Der Carneval hat Paris sehr trübe gesunden, mürrisch und reaktionär. Kein Fastnachtsochs, keine Masken ans den Boulevards. Es ist eine ungeheure Ver¬ änderung in den Seelen der Pariser vorgegangen. Auf echt deutsche Weise run¬ zeln sie jetzt die Stirnen, kneifen die Augen zusammen und raisonniren über ihre Februarrevolution, über all die tolle Verwirrung und den Mangel an Gemüth¬ lichkeit in Paris, welche sie schmerzlich vermissen, wenn ihnen auch das Wort dafür fehlt. Die Februarrevolution war für sie Alle ein so unerwartetes, so überraschen» des Ereigniß, daß sich bei den Meisten noch jetzt kein Urtheil darüber hat bilden können. Wie eS geschehen konnte, daß eine festbegründete Monarchie inmitten einer ansehnlichen Waffenmacht, von alten kriegsersahrnen Heerführern und von einem blühenden tapfern Fürstenhause umgeben, in wenig Stunden unter dem bloßen Anhauch des Volksunwillens zusammenbrach und wie Spreu in alle Winde zerstob, ist freilich räthselhaft und wunderbar. Dieses Räthselhafte aber nach dem Zusammenhange der Thatsachen zu erforschen, dazu bequemen sich doch nur die Wenig¬ sten hier zu Lande, wo die Parteien sich schroff gegenüberstehen und die Betheiligung keinen' unbefangenen Blick zuläßt. Die Meisten, und namentlich die Opfer der Umwälzung, betrachten das letzte Jahr als eine reine Kalamität; für sie ist die bewegende Triebfeder Aufsässigkeit, Muthwillen, Leichtsinn, ja Langeweile; das Factum ein Handstreich, ein Zufall; sein Charakter ruchloser Undank. Hatte doch Jahrs zuvor schon Lamartine das bedeutsame Wort ausgesprochen: I^-t k?i-iuic«z »'«.'liniiie. In dem rauschenden Paris verwischte der nahe liegende Begriff der Langeweile den ernstern des Ueberdrusses, der dahinter lag, so lange, bis plötzlich die Jnvolution «In appris erschien. Freilich fühlt man sich geneigt, die politischen Unruhen aller Zeiten in Frank¬ reich dem Leichtsinn oder der Ungeduld der Nation zur Last zu legen. Wenn die Franzosen, das unruhige Volk, ein Ministerium ändern wollen, sangen sie da¬ mit an, die Regierung zu stürzen. Am 24. Februar berief der König Odilon Barrot in's Ministerium: am 24. December beruft ihn der Präsident der Repu¬ blik. Was dazwischen liegt war also Uebereilung, und der Gewinn eine derbe und leider etwas theuer bezahlte Lehre; die Sachen stehn gerade wieder so, wie sie vormals standen, nur mit dem Unterschiede, daß das Land damals in blühen¬ dem Zustande war und jetzt in zerrütteten Umständen ist. So spricht der Bür¬ ger hier häusig und schwermüthig. Hören sie bei der Gelegenheit auch ein englisches Blatt, das jüngst dasselbe Thema behandelte: Statt den Staatswagen, der am abschüssigen Rande des Abgrunds auszuglei¬ ten drohte, zurückzuhalten, stürzten ihn die Franzosen vollends hinab; sie verlang-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 8, 1849, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341563_277987/404>, abgerufen am 23.07.2024.