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Die Grenzboten. Jg. 8, 1849, I. Semester. I. Band.

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3.
Die Stumme von Portici.

Vernehmt ihr die 101 Schüsse auf dem Capitol, welche die Wiederherstellung
der römischen Republik verkündige"? die zweite Aufführung der heroischen Oper
von Cota Rienzi? Hört ihr das Jauchzen des italienischen Volks? das in plötz¬
licher Begeisterung, jugendlich wie seine kälteren Nachbarn im Norden, sich der
alten Traditionen erinnert, und in altherkömmlicher Weise, abwechselnd in dun¬
keln Verschwörungen und in laut tobenden, unmotivirtem Ausbruch die Einheit
und Freiheit seines schönen Vaterlandes, die ihm nur in Träumen vorschwebt,
in das Reich der Wirklichkeit einzuführen sich abmüht. Die Dolche blitzen wieder
in geübten Händen, und von tausend Kehlen hallt das Lied Masaniello's:

Dem Mcertyrannen gilt die kühne Jagd!

Als echter Franzose versteht es Scribe meisterhaft, in schnellen kurzen Zügen
leichtsinnig aber pikant, das Gemälde mächtiger Leidenschaften anzudeuten. Weder
im Fiesco, noch im Teil oder Egmont, hat es der Dichter verstanden, in so be¬
stimmter Spannung die Seele in seiner revolutionären Intrigue mit fortzureißen.
Auch in der Musik athmet etwas von der. französischen Luft, aus der die Mar¬
seillaise entsprang. -- Das Stück dient nicht zur Empfehlung der Revolution.
Wir hassen den alten Polizeistaat, der die liederlichen Gelüste der jungen
Prinzen und Gardeleutuauts, den armen Fischermädchen gegenüber in Schutz
nimmt, wir empfinden den Schmerz der unglückseligen Stummen, wir nehmen
mit aller Seele an der Verschwörung Theil. Die Aufregung der Marktscene zit¬
tert in unsern eignen Gemüthern nach. Aber nun ist die That geschehen, die
Sache der Barrikaden hat gesiegt, und es gilt, den neuen Staat zu organisiren.
Es wird ein liberales Ministerium gebildet; der Chef der Jnsurrection, Masa-
niello, gestützt auf die Hilfe der Bourgeoisie von Neapel, die sich vor dem Pö¬
belregiment ebenso scheut, als vor der Herrschaft der Soldaten, tritt an die Spitze
desselben. Die äußerste Linke wird wieder zur Verschwörung gedrängt, und da sie
auf offnen Aufstand nicht rechnen kann, greift sie zum Gift. Masaniello verliert
den Verstand und wir haben nun die rothe Republik in der schönsten Form. Der
souveräne Unverstand bemächtigt sich der Regierung, und in dem wüsten Wesen,
welches sich uun der Republik bemächtigt, wird der Sieg der bewaffneten Reaction
und die Wiederkehr des alten Absolutismus als Rettung begrüßt. Ob Neapel
damals von Seite der Legitimisten von einem ähnlichen Bombardement heimge¬
sucht worden ist, wie in Palermo in unsern Tagen, entgeht uns über dem gran-
dicscn Transparent-Ausbruch des Vesuv, der mit seiner naturwüchsigen Empörung
die Glut der menschlichen Leidenschaften übertönt.

Armes Italien! noch immer blühen die Schlinggewächse deines individuellen
Lebens poetisch über die Ruinen deiner großen Vergangenheit hinaus. Aber die
altklassische Form deiner Tempel ist durch die Zeit romantisch geworden; ihre Sau-


3.
Die Stumme von Portici.

Vernehmt ihr die 101 Schüsse auf dem Capitol, welche die Wiederherstellung
der römischen Republik verkündige»? die zweite Aufführung der heroischen Oper
von Cota Rienzi? Hört ihr das Jauchzen des italienischen Volks? das in plötz¬
licher Begeisterung, jugendlich wie seine kälteren Nachbarn im Norden, sich der
alten Traditionen erinnert, und in altherkömmlicher Weise, abwechselnd in dun¬
keln Verschwörungen und in laut tobenden, unmotivirtem Ausbruch die Einheit
und Freiheit seines schönen Vaterlandes, die ihm nur in Träumen vorschwebt,
in das Reich der Wirklichkeit einzuführen sich abmüht. Die Dolche blitzen wieder
in geübten Händen, und von tausend Kehlen hallt das Lied Masaniello's:

Dem Mcertyrannen gilt die kühne Jagd!

Als echter Franzose versteht es Scribe meisterhaft, in schnellen kurzen Zügen
leichtsinnig aber pikant, das Gemälde mächtiger Leidenschaften anzudeuten. Weder
im Fiesco, noch im Teil oder Egmont, hat es der Dichter verstanden, in so be¬
stimmter Spannung die Seele in seiner revolutionären Intrigue mit fortzureißen.
Auch in der Musik athmet etwas von der. französischen Luft, aus der die Mar¬
seillaise entsprang. — Das Stück dient nicht zur Empfehlung der Revolution.
Wir hassen den alten Polizeistaat, der die liederlichen Gelüste der jungen
Prinzen und Gardeleutuauts, den armen Fischermädchen gegenüber in Schutz
nimmt, wir empfinden den Schmerz der unglückseligen Stummen, wir nehmen
mit aller Seele an der Verschwörung Theil. Die Aufregung der Marktscene zit¬
tert in unsern eignen Gemüthern nach. Aber nun ist die That geschehen, die
Sache der Barrikaden hat gesiegt, und es gilt, den neuen Staat zu organisiren.
Es wird ein liberales Ministerium gebildet; der Chef der Jnsurrection, Masa-
niello, gestützt auf die Hilfe der Bourgeoisie von Neapel, die sich vor dem Pö¬
belregiment ebenso scheut, als vor der Herrschaft der Soldaten, tritt an die Spitze
desselben. Die äußerste Linke wird wieder zur Verschwörung gedrängt, und da sie
auf offnen Aufstand nicht rechnen kann, greift sie zum Gift. Masaniello verliert
den Verstand und wir haben nun die rothe Republik in der schönsten Form. Der
souveräne Unverstand bemächtigt sich der Regierung, und in dem wüsten Wesen,
welches sich uun der Republik bemächtigt, wird der Sieg der bewaffneten Reaction
und die Wiederkehr des alten Absolutismus als Rettung begrüßt. Ob Neapel
damals von Seite der Legitimisten von einem ähnlichen Bombardement heimge¬
sucht worden ist, wie in Palermo in unsern Tagen, entgeht uns über dem gran-
dicscn Transparent-Ausbruch des Vesuv, der mit seiner naturwüchsigen Empörung
die Glut der menschlichen Leidenschaften übertönt.

Armes Italien! noch immer blühen die Schlinggewächse deines individuellen
Lebens poetisch über die Ruinen deiner großen Vergangenheit hinaus. Aber die
altklassische Form deiner Tempel ist durch die Zeit romantisch geworden; ihre Sau-


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[0354] 3. Die Stumme von Portici. Vernehmt ihr die 101 Schüsse auf dem Capitol, welche die Wiederherstellung der römischen Republik verkündige»? die zweite Aufführung der heroischen Oper von Cota Rienzi? Hört ihr das Jauchzen des italienischen Volks? das in plötz¬ licher Begeisterung, jugendlich wie seine kälteren Nachbarn im Norden, sich der alten Traditionen erinnert, und in altherkömmlicher Weise, abwechselnd in dun¬ keln Verschwörungen und in laut tobenden, unmotivirtem Ausbruch die Einheit und Freiheit seines schönen Vaterlandes, die ihm nur in Träumen vorschwebt, in das Reich der Wirklichkeit einzuführen sich abmüht. Die Dolche blitzen wieder in geübten Händen, und von tausend Kehlen hallt das Lied Masaniello's: Dem Mcertyrannen gilt die kühne Jagd! Als echter Franzose versteht es Scribe meisterhaft, in schnellen kurzen Zügen leichtsinnig aber pikant, das Gemälde mächtiger Leidenschaften anzudeuten. Weder im Fiesco, noch im Teil oder Egmont, hat es der Dichter verstanden, in so be¬ stimmter Spannung die Seele in seiner revolutionären Intrigue mit fortzureißen. Auch in der Musik athmet etwas von der. französischen Luft, aus der die Mar¬ seillaise entsprang. — Das Stück dient nicht zur Empfehlung der Revolution. Wir hassen den alten Polizeistaat, der die liederlichen Gelüste der jungen Prinzen und Gardeleutuauts, den armen Fischermädchen gegenüber in Schutz nimmt, wir empfinden den Schmerz der unglückseligen Stummen, wir nehmen mit aller Seele an der Verschwörung Theil. Die Aufregung der Marktscene zit¬ tert in unsern eignen Gemüthern nach. Aber nun ist die That geschehen, die Sache der Barrikaden hat gesiegt, und es gilt, den neuen Staat zu organisiren. Es wird ein liberales Ministerium gebildet; der Chef der Jnsurrection, Masa- niello, gestützt auf die Hilfe der Bourgeoisie von Neapel, die sich vor dem Pö¬ belregiment ebenso scheut, als vor der Herrschaft der Soldaten, tritt an die Spitze desselben. Die äußerste Linke wird wieder zur Verschwörung gedrängt, und da sie auf offnen Aufstand nicht rechnen kann, greift sie zum Gift. Masaniello verliert den Verstand und wir haben nun die rothe Republik in der schönsten Form. Der souveräne Unverstand bemächtigt sich der Regierung, und in dem wüsten Wesen, welches sich uun der Republik bemächtigt, wird der Sieg der bewaffneten Reaction und die Wiederkehr des alten Absolutismus als Rettung begrüßt. Ob Neapel damals von Seite der Legitimisten von einem ähnlichen Bombardement heimge¬ sucht worden ist, wie in Palermo in unsern Tagen, entgeht uns über dem gran- dicscn Transparent-Ausbruch des Vesuv, der mit seiner naturwüchsigen Empörung die Glut der menschlichen Leidenschaften übertönt. Armes Italien! noch immer blühen die Schlinggewächse deines individuellen Lebens poetisch über die Ruinen deiner großen Vergangenheit hinaus. Aber die altklassische Form deiner Tempel ist durch die Zeit romantisch geworden; ihre Sau-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 8, 1849, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341563_277987/354>, abgerufen am 22.12.2024.