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Die Grenzboten. Jg. 8, 1849, I. Semester. I. Band.

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bisher gefehlt; die Willkür hat regiert, wenn auch die wohlmeinende: die Will¬
kür des absoluten Regiments oder des ungegliederten Volks; eine solche Grund¬
lage zu gewinnen, war der edle Zweck der alten Opposition. Die octroyirte Ver¬
fassung, was man ihr auch im Einzelnen vorwerfen mag, ist nun von der Art,
daß ein Volk, welches nicht verstünde, innerhalb ihrer sich zu vernünftiger Frei¬
heit zu entwickeln, werth wäre, ewig Sclavcndieuste zu thun. Sie ist zunächst
nur die Form, aber weit genug angelegt, daß innerhalb ihrer die eigentliche
Organisation des Staats sich gleichmäßig ausbilden könne. Sollte ja noch irgend
ein Zweifel über jene RechlSgiltigkeit entstehen, so schwindet dieser Zweifel un¬
fehlbar durch das unbedingte Eingehen von Seiten der Repräsentanten, und durch
die unverzügliche Aufforderung, das Gouvernement, seinerseits durch Vereidigung
des Militärs und der Beamten sie in volle Rechtskraft treten zu lassen. Der
Eigensinn, der sich gegen ein solches Eingehen stränbt, muß durch die Vernunft
überwunden werden.

Soll aber die Verfassung den festen Grund, der ihr rechtlich zukommt, auch
factisch gewähren, so muß mau nicht voreilig daran rütteln. Aus diesem Grunde
würde ich es für mißlich halten, wenn die Kammer, wozu sie das Recht hat, an
eine weit ausgedehnte Revision der Verfassung ginge. Einerseits würde dann die
Zeit, die man zur organischen Gesetzgebung auf das Dringendste bedarf, zum
zweitenmal an jene fruchtlose formelle Polemik verschwendet, anderseits aber bedürfte
das Resultat ganz anders ausfallen, als die Demokratie zu hoffen sich berechtigt
glaubt. Sobald die zweite Kammer auf Abschaffung der erste" anträgt, oder we¬
nigstens auf Abänderung der Grundlagen derselben (des Census), so wird diese
Reciprocität üben, und wenn aus diese" leeren Debatten überhaupt ein Resultat
hervorgeht, so hat man es der Laune oder dem Zufall zu danken. Es ist dies eine
schlimmere Gefahr, als der Versuch, gegen die Nechtsgiltigkeit der Verfassung über¬
haupt zu polemisiren, denn gegen das letzte wird sich, wie die Sachen jetzt stehen,
die Majorität unzweifelhaft entscheiden, ans eine Generalrevision aber könnte man¬
cher wohlgesinnte Patriot eingehn.

Die Anklage des Ministeriums wäre ein leerer Act der Rache, eine Wieder¬
holung derselben Thorheit, welche die Regierung selbst in der zugelassenen Ver¬
folgung der Stenerverweigercr begangen hat. Wer will in Zeiten der Revolution
zwischen Recht n"d Unrecht unterscheiden? Welchem Gerichtshof will man daS
Urtheil übertragen? -- Geschehenes kann kein Gott ungeschehen machen, aber
der Mensch hat das Vorrecht der Amnestie: was geschehen ist, ist geschehen, wir
denken nicht weiter daran und gehen zur Tagesordnung über. Wenigstens wird
sich kein Patriot zu einen: Schritte hergeben, der zu ebenso unheilvollen als lächer¬
lichen Scenen Veranlassung sein müßte.

Das Ministerium wird seiue Handlungen vor der Kammer vertreten. Man
wird ihm keine Dankadresse poliren, denn das hieße den Gefühlen eines großen


bisher gefehlt; die Willkür hat regiert, wenn auch die wohlmeinende: die Will¬
kür des absoluten Regiments oder des ungegliederten Volks; eine solche Grund¬
lage zu gewinnen, war der edle Zweck der alten Opposition. Die octroyirte Ver¬
fassung, was man ihr auch im Einzelnen vorwerfen mag, ist nun von der Art,
daß ein Volk, welches nicht verstünde, innerhalb ihrer sich zu vernünftiger Frei¬
heit zu entwickeln, werth wäre, ewig Sclavcndieuste zu thun. Sie ist zunächst
nur die Form, aber weit genug angelegt, daß innerhalb ihrer die eigentliche
Organisation des Staats sich gleichmäßig ausbilden könne. Sollte ja noch irgend
ein Zweifel über jene RechlSgiltigkeit entstehen, so schwindet dieser Zweifel un¬
fehlbar durch das unbedingte Eingehen von Seiten der Repräsentanten, und durch
die unverzügliche Aufforderung, das Gouvernement, seinerseits durch Vereidigung
des Militärs und der Beamten sie in volle Rechtskraft treten zu lassen. Der
Eigensinn, der sich gegen ein solches Eingehen stränbt, muß durch die Vernunft
überwunden werden.

Soll aber die Verfassung den festen Grund, der ihr rechtlich zukommt, auch
factisch gewähren, so muß mau nicht voreilig daran rütteln. Aus diesem Grunde
würde ich es für mißlich halten, wenn die Kammer, wozu sie das Recht hat, an
eine weit ausgedehnte Revision der Verfassung ginge. Einerseits würde dann die
Zeit, die man zur organischen Gesetzgebung auf das Dringendste bedarf, zum
zweitenmal an jene fruchtlose formelle Polemik verschwendet, anderseits aber bedürfte
das Resultat ganz anders ausfallen, als die Demokratie zu hoffen sich berechtigt
glaubt. Sobald die zweite Kammer auf Abschaffung der erste» anträgt, oder we¬
nigstens auf Abänderung der Grundlagen derselben (des Census), so wird diese
Reciprocität üben, und wenn aus diese» leeren Debatten überhaupt ein Resultat
hervorgeht, so hat man es der Laune oder dem Zufall zu danken. Es ist dies eine
schlimmere Gefahr, als der Versuch, gegen die Nechtsgiltigkeit der Verfassung über¬
haupt zu polemisiren, denn gegen das letzte wird sich, wie die Sachen jetzt stehen,
die Majorität unzweifelhaft entscheiden, ans eine Generalrevision aber könnte man¬
cher wohlgesinnte Patriot eingehn.

Die Anklage des Ministeriums wäre ein leerer Act der Rache, eine Wieder¬
holung derselben Thorheit, welche die Regierung selbst in der zugelassenen Ver¬
folgung der Stenerverweigercr begangen hat. Wer will in Zeiten der Revolution
zwischen Recht n»d Unrecht unterscheiden? Welchem Gerichtshof will man daS
Urtheil übertragen? — Geschehenes kann kein Gott ungeschehen machen, aber
der Mensch hat das Vorrecht der Amnestie: was geschehen ist, ist geschehen, wir
denken nicht weiter daran und gehen zur Tagesordnung über. Wenigstens wird
sich kein Patriot zu einen: Schritte hergeben, der zu ebenso unheilvollen als lächer¬
lichen Scenen Veranlassung sein müßte.

Das Ministerium wird seiue Handlungen vor der Kammer vertreten. Man
wird ihm keine Dankadresse poliren, denn das hieße den Gefühlen eines großen


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[0318] bisher gefehlt; die Willkür hat regiert, wenn auch die wohlmeinende: die Will¬ kür des absoluten Regiments oder des ungegliederten Volks; eine solche Grund¬ lage zu gewinnen, war der edle Zweck der alten Opposition. Die octroyirte Ver¬ fassung, was man ihr auch im Einzelnen vorwerfen mag, ist nun von der Art, daß ein Volk, welches nicht verstünde, innerhalb ihrer sich zu vernünftiger Frei¬ heit zu entwickeln, werth wäre, ewig Sclavcndieuste zu thun. Sie ist zunächst nur die Form, aber weit genug angelegt, daß innerhalb ihrer die eigentliche Organisation des Staats sich gleichmäßig ausbilden könne. Sollte ja noch irgend ein Zweifel über jene RechlSgiltigkeit entstehen, so schwindet dieser Zweifel un¬ fehlbar durch das unbedingte Eingehen von Seiten der Repräsentanten, und durch die unverzügliche Aufforderung, das Gouvernement, seinerseits durch Vereidigung des Militärs und der Beamten sie in volle Rechtskraft treten zu lassen. Der Eigensinn, der sich gegen ein solches Eingehen stränbt, muß durch die Vernunft überwunden werden. Soll aber die Verfassung den festen Grund, der ihr rechtlich zukommt, auch factisch gewähren, so muß mau nicht voreilig daran rütteln. Aus diesem Grunde würde ich es für mißlich halten, wenn die Kammer, wozu sie das Recht hat, an eine weit ausgedehnte Revision der Verfassung ginge. Einerseits würde dann die Zeit, die man zur organischen Gesetzgebung auf das Dringendste bedarf, zum zweitenmal an jene fruchtlose formelle Polemik verschwendet, anderseits aber bedürfte das Resultat ganz anders ausfallen, als die Demokratie zu hoffen sich berechtigt glaubt. Sobald die zweite Kammer auf Abschaffung der erste» anträgt, oder we¬ nigstens auf Abänderung der Grundlagen derselben (des Census), so wird diese Reciprocität üben, und wenn aus diese» leeren Debatten überhaupt ein Resultat hervorgeht, so hat man es der Laune oder dem Zufall zu danken. Es ist dies eine schlimmere Gefahr, als der Versuch, gegen die Nechtsgiltigkeit der Verfassung über¬ haupt zu polemisiren, denn gegen das letzte wird sich, wie die Sachen jetzt stehen, die Majorität unzweifelhaft entscheiden, ans eine Generalrevision aber könnte man¬ cher wohlgesinnte Patriot eingehn. Die Anklage des Ministeriums wäre ein leerer Act der Rache, eine Wieder¬ holung derselben Thorheit, welche die Regierung selbst in der zugelassenen Ver¬ folgung der Stenerverweigercr begangen hat. Wer will in Zeiten der Revolution zwischen Recht n»d Unrecht unterscheiden? Welchem Gerichtshof will man daS Urtheil übertragen? — Geschehenes kann kein Gott ungeschehen machen, aber der Mensch hat das Vorrecht der Amnestie: was geschehen ist, ist geschehen, wir denken nicht weiter daran und gehen zur Tagesordnung über. Wenigstens wird sich kein Patriot zu einen: Schritte hergeben, der zu ebenso unheilvollen als lächer¬ lichen Scenen Veranlassung sein müßte. Das Ministerium wird seiue Handlungen vor der Kammer vertreten. Man wird ihm keine Dankadresse poliren, denn das hieße den Gefühlen eines großen

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 8, 1849, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341563_277987/318>, abgerufen am 03.07.2024.