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Die Grenzboten. Jg. 8, 1849, I. Semester. I. Band.

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Bei der Analyse dieses wichtigen Actenstücks müssen wir natürlich die ge¬
bundene officielle Sprache in unsere freiere übersetzen.

Bei der projectirten Entwickelung der deutschen Verfassung collidiren drei
Gewalten. Einmal die Nationalversammlung, bei der sich die Ansicht herausge¬
stellt hat, sie sei allein dazu berufen, aus eigner Machtvollkommenheit diese Ver¬
fassung zu geben: eine Ansicht, welche wesentlich durch die eigenthümliche Lage
der Verhältnisse seit dem März, durch die Unthätigkeit und Convenienz der Re¬
gierungen bei dem Verfassuugswerk erklärt und gewissermassen entschuldigt wird.
Sodann die einzelnen Staaten, welche der Ansicht sind, ihre Einwilligung sei
unbedingt nothwendig zu jeder Abänderung der Verfassung. Zwischen beide Ex¬
treme tritt der Rechtsstandpunkt: die Ueberzeugung von der Fortdauer des deut¬
schen Bundes trotz aller revolutionären Umgestaltung.

Wie stellt sich nun die preußische Regierung zu diesen collidirenden An¬
sichten?

Einmal erklärt sie auf das Bestimmteste, keine Bundesgewalt einseitig von
der Nationalversammlung, ohne Einwilligung der einzelnen Staaten annehmen
zu wollen. Da aber das Zustandekommen eines engeren Bundes wünschenswerth
erscheint, und da sich erwarten läßt, die Nationalversammlung werde sich über
die Modalitäten desselben eher einigen, als die 37 Regierungen, so ist der zweck¬
mäßigste Ausweg, daß die einzelnen Regierungen ihre Bedenken, Vorschläge u. s. w.
vor der definitiven Beschlnßncchme der Versammlung vorlegen -- gleichsam als
Bedingungen, unter denen sie dem neuen Bunde beizutreten gedenken.

Erfolgt darauf die beiderseitige Einigung und nehmen die einzelnen Staaten
die neue Verfassung an, so ist Alles in Ordnung.

Erfolgt eine solche Einigung aber nicht, so bleibt zunächst der alte Bund
bestehen mit allen Rechten und Pflichten der einzelnen Bundesglieder -- Holstein,
Limburg und Deutsch-Oestreich mit einbegriffen.

Dieses Fortbestehen des deutschen Bundes hindert aber die einzelnen Staaten
nicht, unter sich einen engern Bund zu schließen, mag dieser Bund auch so enge
sein, daß ein neuer Staat daraus entsteht. Am bequemsten wird dieser Bundes¬
staat auf Grundlage der von der Nationalversammlung vorgelegten Entwürfe ge¬
schlossen. Will z. B. Oestreich, oder Dänemark für Holstein, oder Niederland
für Limburg, diesem neuen Bundesstaat nicht beitreten, so werden sie damit weder
ihre alten Bundespflichten los, noch können sie ihrerseits die übrigen Staaten
an dem Abschluß eines solchen Vertrags hindern.

Gesetzt also, Preußen, Meklenburg, Hannover, Würtemberg, Baden u. s. w.
schließen auf der Basis der von der Nationalversammlung beantragten Verfassung
einen Vertrag ab, zufolge dessen sie einen Staat bilden wollen mit einer Central-
regierung und Centralständen -- so geschieht das freilich unter der Voraussetzung,
daß sie ihren alten BundeSpflichten fernerhin, nachkommen. Sie, nehmen dasselbe


Bei der Analyse dieses wichtigen Actenstücks müssen wir natürlich die ge¬
bundene officielle Sprache in unsere freiere übersetzen.

Bei der projectirten Entwickelung der deutschen Verfassung collidiren drei
Gewalten. Einmal die Nationalversammlung, bei der sich die Ansicht herausge¬
stellt hat, sie sei allein dazu berufen, aus eigner Machtvollkommenheit diese Ver¬
fassung zu geben: eine Ansicht, welche wesentlich durch die eigenthümliche Lage
der Verhältnisse seit dem März, durch die Unthätigkeit und Convenienz der Re¬
gierungen bei dem Verfassuugswerk erklärt und gewissermassen entschuldigt wird.
Sodann die einzelnen Staaten, welche der Ansicht sind, ihre Einwilligung sei
unbedingt nothwendig zu jeder Abänderung der Verfassung. Zwischen beide Ex¬
treme tritt der Rechtsstandpunkt: die Ueberzeugung von der Fortdauer des deut¬
schen Bundes trotz aller revolutionären Umgestaltung.

Wie stellt sich nun die preußische Regierung zu diesen collidirenden An¬
sichten?

Einmal erklärt sie auf das Bestimmteste, keine Bundesgewalt einseitig von
der Nationalversammlung, ohne Einwilligung der einzelnen Staaten annehmen
zu wollen. Da aber das Zustandekommen eines engeren Bundes wünschenswerth
erscheint, und da sich erwarten läßt, die Nationalversammlung werde sich über
die Modalitäten desselben eher einigen, als die 37 Regierungen, so ist der zweck¬
mäßigste Ausweg, daß die einzelnen Regierungen ihre Bedenken, Vorschläge u. s. w.
vor der definitiven Beschlnßncchme der Versammlung vorlegen — gleichsam als
Bedingungen, unter denen sie dem neuen Bunde beizutreten gedenken.

Erfolgt darauf die beiderseitige Einigung und nehmen die einzelnen Staaten
die neue Verfassung an, so ist Alles in Ordnung.

Erfolgt eine solche Einigung aber nicht, so bleibt zunächst der alte Bund
bestehen mit allen Rechten und Pflichten der einzelnen Bundesglieder — Holstein,
Limburg und Deutsch-Oestreich mit einbegriffen.

Dieses Fortbestehen des deutschen Bundes hindert aber die einzelnen Staaten
nicht, unter sich einen engern Bund zu schließen, mag dieser Bund auch so enge
sein, daß ein neuer Staat daraus entsteht. Am bequemsten wird dieser Bundes¬
staat auf Grundlage der von der Nationalversammlung vorgelegten Entwürfe ge¬
schlossen. Will z. B. Oestreich, oder Dänemark für Holstein, oder Niederland
für Limburg, diesem neuen Bundesstaat nicht beitreten, so werden sie damit weder
ihre alten Bundespflichten los, noch können sie ihrerseits die übrigen Staaten
an dem Abschluß eines solchen Vertrags hindern.

Gesetzt also, Preußen, Meklenburg, Hannover, Würtemberg, Baden u. s. w.
schließen auf der Basis der von der Nationalversammlung beantragten Verfassung
einen Vertrag ab, zufolge dessen sie einen Staat bilden wollen mit einer Central-
regierung und Centralständen — so geschieht das freilich unter der Voraussetzung,
daß sie ihren alten BundeSpflichten fernerhin, nachkommen. Sie, nehmen dasselbe


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[0276] Bei der Analyse dieses wichtigen Actenstücks müssen wir natürlich die ge¬ bundene officielle Sprache in unsere freiere übersetzen. Bei der projectirten Entwickelung der deutschen Verfassung collidiren drei Gewalten. Einmal die Nationalversammlung, bei der sich die Ansicht herausge¬ stellt hat, sie sei allein dazu berufen, aus eigner Machtvollkommenheit diese Ver¬ fassung zu geben: eine Ansicht, welche wesentlich durch die eigenthümliche Lage der Verhältnisse seit dem März, durch die Unthätigkeit und Convenienz der Re¬ gierungen bei dem Verfassuugswerk erklärt und gewissermassen entschuldigt wird. Sodann die einzelnen Staaten, welche der Ansicht sind, ihre Einwilligung sei unbedingt nothwendig zu jeder Abänderung der Verfassung. Zwischen beide Ex¬ treme tritt der Rechtsstandpunkt: die Ueberzeugung von der Fortdauer des deut¬ schen Bundes trotz aller revolutionären Umgestaltung. Wie stellt sich nun die preußische Regierung zu diesen collidirenden An¬ sichten? Einmal erklärt sie auf das Bestimmteste, keine Bundesgewalt einseitig von der Nationalversammlung, ohne Einwilligung der einzelnen Staaten annehmen zu wollen. Da aber das Zustandekommen eines engeren Bundes wünschenswerth erscheint, und da sich erwarten läßt, die Nationalversammlung werde sich über die Modalitäten desselben eher einigen, als die 37 Regierungen, so ist der zweck¬ mäßigste Ausweg, daß die einzelnen Regierungen ihre Bedenken, Vorschläge u. s. w. vor der definitiven Beschlnßncchme der Versammlung vorlegen — gleichsam als Bedingungen, unter denen sie dem neuen Bunde beizutreten gedenken. Erfolgt darauf die beiderseitige Einigung und nehmen die einzelnen Staaten die neue Verfassung an, so ist Alles in Ordnung. Erfolgt eine solche Einigung aber nicht, so bleibt zunächst der alte Bund bestehen mit allen Rechten und Pflichten der einzelnen Bundesglieder — Holstein, Limburg und Deutsch-Oestreich mit einbegriffen. Dieses Fortbestehen des deutschen Bundes hindert aber die einzelnen Staaten nicht, unter sich einen engern Bund zu schließen, mag dieser Bund auch so enge sein, daß ein neuer Staat daraus entsteht. Am bequemsten wird dieser Bundes¬ staat auf Grundlage der von der Nationalversammlung vorgelegten Entwürfe ge¬ schlossen. Will z. B. Oestreich, oder Dänemark für Holstein, oder Niederland für Limburg, diesem neuen Bundesstaat nicht beitreten, so werden sie damit weder ihre alten Bundespflichten los, noch können sie ihrerseits die übrigen Staaten an dem Abschluß eines solchen Vertrags hindern. Gesetzt also, Preußen, Meklenburg, Hannover, Würtemberg, Baden u. s. w. schließen auf der Basis der von der Nationalversammlung beantragten Verfassung einen Vertrag ab, zufolge dessen sie einen Staat bilden wollen mit einer Central- regierung und Centralständen — so geschieht das freilich unter der Voraussetzung, daß sie ihren alten BundeSpflichten fernerhin, nachkommen. Sie, nehmen dasselbe

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 8, 1849, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341563_277987/276>, abgerufen am 23.07.2024.