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Die Grenzboten. Jg. 8, 1849, I. Semester. I. Band.

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Schilderung der menschlichen Leiden empfindlich machte? Es war mehr die krank¬
hafte Lust nach starker Nervenaufregung, dieselbe Lust, die bei den entarteten Söh¬
nen der alten Römer die Gladiatorenspiele, bei den Spaniern die Stiergefechte
hervorrief, die unsern Pöbel zu dem widerwärtigen Schauspiel einer Hinrichtung
treibt. Wie bei dem Arzt, der ursprünglich nur die Wunden untersucht, um sie
heilen zu können, sich allmälig ein objectives Wohlgefallen an der Anschauung der
Krankheit einmischt, so legt freilich dem Anschein nach ein Eugen <sue die Hand
nur darum in die Wunden der Gesellschaft, um nach Mitteln zu ihrer Linderung
zu suchen, auf jede Schilderung irgend eines Greuels folgt ein moralisches.Ca¬
pitel: so und so sollt ihr euch verhalten, damit so etwas nicht wieder vorkomme;
aber der eigentliche Leser des Feuilletons überschlägt dergleichen Anwandlungen,
und jagt mit dem Heißhunger eines blasirten Epiknreers neuen Giftmorden, Verrä¬
thereien und Liederlichkeiten nach. Der berühmte Feuilletonist, der selber seine
Wohnung mit einem Luxus auszustatten gewußt hat, der einem Genz Ehre ma¬
chen würde, empfiehlt theoretisch die Bescheidung, die zufriedne Armuth; aber
welche Farben stehen ihm zu Gebote, den sinnlichen Glanz zu malen, in welchem
der Reichthum seine Schwingen ausbreitet! Die Phantasie bleibt in dieser An¬
schauung, die ü^nur "Zocet hinkt unbeachtet nach. Noch dazu ist das Heilmittel
in der Regel gleichfalls ans die Phantasie berechnet, und fast ebenso gefährlich,
als die Krankheit, der es abhelfen soll: die Idee der subjectiven Gerechtigkeit,
die, dem Himmel und seiner Unthätigkeit zum Trotz, mit dem Hochmuth eines
unfehlbaren Bewußtseins überall gewaltsam eingreift, und wie die Jesuiten und
Illuminaten, die Mittel nicht besonders ansieht, die zum guten Zweck führen sollen.
Selbst im Roman bringt es das französische Rechtsgefühl nicht weiter, als bis
zum aufgeklärten Despotismus, denn diese Tugendhelden der Eugen Sue'sehen
Romane, die Rudolfe n. s. w., spielen keine andere Rolle, als im Tartüffe der
Bote des absoluten König", der aus der souveränen Machtvollkommenheit seines
unmittelbaren Nechtsbewußtseius das positive Recht dahin wendet, wo es ihm augen¬
blicklich paßt, wenn auch das moderne Frankreich romantisch genog denkt, dieses
souveräne Rechtsgefühl von der äußerlich legitimirten Souveränität zu trennen,
und so den verkappten Großherzog von Gerolstein zu einem zweiten Karl Moor
zu machen, der seine Mulatten, Aerzte, Buhlerinnen u. s. w. ebenso verwendet,
als der deutsche Wiederhersteller der göttlichen Weltordnung seine Libertins und
Spitzbuben.

Eugen Tue und die übrigen Moralisten seiner Branche haben bei ihrer epi¬
schen Objectivität immer noch den sittlichen Hintergedanken, wie Chauderlos de
Laclos in seinen Liaisons dangereuses; Balzac und seine Schule läßt diesen pie¬
tistischen Hintergrund fallen, und stellt die verkehrte Welt des Unrechts mit aller
Naivität einer zweiten Unschuld dar. Seine Romane, die am weitesten verbreitet
sind -- ?ore Koriot, I^e ßranä Komme av xrovmce, I'tüstoire nos treibe u. f. w.


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Schilderung der menschlichen Leiden empfindlich machte? Es war mehr die krank¬
hafte Lust nach starker Nervenaufregung, dieselbe Lust, die bei den entarteten Söh¬
nen der alten Römer die Gladiatorenspiele, bei den Spaniern die Stiergefechte
hervorrief, die unsern Pöbel zu dem widerwärtigen Schauspiel einer Hinrichtung
treibt. Wie bei dem Arzt, der ursprünglich nur die Wunden untersucht, um sie
heilen zu können, sich allmälig ein objectives Wohlgefallen an der Anschauung der
Krankheit einmischt, so legt freilich dem Anschein nach ein Eugen <sue die Hand
nur darum in die Wunden der Gesellschaft, um nach Mitteln zu ihrer Linderung
zu suchen, auf jede Schilderung irgend eines Greuels folgt ein moralisches.Ca¬
pitel: so und so sollt ihr euch verhalten, damit so etwas nicht wieder vorkomme;
aber der eigentliche Leser des Feuilletons überschlägt dergleichen Anwandlungen,
und jagt mit dem Heißhunger eines blasirten Epiknreers neuen Giftmorden, Verrä¬
thereien und Liederlichkeiten nach. Der berühmte Feuilletonist, der selber seine
Wohnung mit einem Luxus auszustatten gewußt hat, der einem Genz Ehre ma¬
chen würde, empfiehlt theoretisch die Bescheidung, die zufriedne Armuth; aber
welche Farben stehen ihm zu Gebote, den sinnlichen Glanz zu malen, in welchem
der Reichthum seine Schwingen ausbreitet! Die Phantasie bleibt in dieser An¬
schauung, die ü^nur «Zocet hinkt unbeachtet nach. Noch dazu ist das Heilmittel
in der Regel gleichfalls ans die Phantasie berechnet, und fast ebenso gefährlich,
als die Krankheit, der es abhelfen soll: die Idee der subjectiven Gerechtigkeit,
die, dem Himmel und seiner Unthätigkeit zum Trotz, mit dem Hochmuth eines
unfehlbaren Bewußtseins überall gewaltsam eingreift, und wie die Jesuiten und
Illuminaten, die Mittel nicht besonders ansieht, die zum guten Zweck führen sollen.
Selbst im Roman bringt es das französische Rechtsgefühl nicht weiter, als bis
zum aufgeklärten Despotismus, denn diese Tugendhelden der Eugen Sue'sehen
Romane, die Rudolfe n. s. w., spielen keine andere Rolle, als im Tartüffe der
Bote des absoluten König«, der aus der souveränen Machtvollkommenheit seines
unmittelbaren Nechtsbewußtseius das positive Recht dahin wendet, wo es ihm augen¬
blicklich paßt, wenn auch das moderne Frankreich romantisch genog denkt, dieses
souveräne Rechtsgefühl von der äußerlich legitimirten Souveränität zu trennen,
und so den verkappten Großherzog von Gerolstein zu einem zweiten Karl Moor
zu machen, der seine Mulatten, Aerzte, Buhlerinnen u. s. w. ebenso verwendet,
als der deutsche Wiederhersteller der göttlichen Weltordnung seine Libertins und
Spitzbuben.

Eugen Tue und die übrigen Moralisten seiner Branche haben bei ihrer epi¬
schen Objectivität immer noch den sittlichen Hintergedanken, wie Chauderlos de
Laclos in seinen Liaisons dangereuses; Balzac und seine Schule läßt diesen pie¬
tistischen Hintergrund fallen, und stellt die verkehrte Welt des Unrechts mit aller
Naivität einer zweiten Unschuld dar. Seine Romane, die am weitesten verbreitet
sind — ?ore Koriot, I^e ßranä Komme av xrovmce, I'tüstoire nos treibe u. f. w.


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[0025] Schilderung der menschlichen Leiden empfindlich machte? Es war mehr die krank¬ hafte Lust nach starker Nervenaufregung, dieselbe Lust, die bei den entarteten Söh¬ nen der alten Römer die Gladiatorenspiele, bei den Spaniern die Stiergefechte hervorrief, die unsern Pöbel zu dem widerwärtigen Schauspiel einer Hinrichtung treibt. Wie bei dem Arzt, der ursprünglich nur die Wunden untersucht, um sie heilen zu können, sich allmälig ein objectives Wohlgefallen an der Anschauung der Krankheit einmischt, so legt freilich dem Anschein nach ein Eugen <sue die Hand nur darum in die Wunden der Gesellschaft, um nach Mitteln zu ihrer Linderung zu suchen, auf jede Schilderung irgend eines Greuels folgt ein moralisches.Ca¬ pitel: so und so sollt ihr euch verhalten, damit so etwas nicht wieder vorkomme; aber der eigentliche Leser des Feuilletons überschlägt dergleichen Anwandlungen, und jagt mit dem Heißhunger eines blasirten Epiknreers neuen Giftmorden, Verrä¬ thereien und Liederlichkeiten nach. Der berühmte Feuilletonist, der selber seine Wohnung mit einem Luxus auszustatten gewußt hat, der einem Genz Ehre ma¬ chen würde, empfiehlt theoretisch die Bescheidung, die zufriedne Armuth; aber welche Farben stehen ihm zu Gebote, den sinnlichen Glanz zu malen, in welchem der Reichthum seine Schwingen ausbreitet! Die Phantasie bleibt in dieser An¬ schauung, die ü^nur «Zocet hinkt unbeachtet nach. Noch dazu ist das Heilmittel in der Regel gleichfalls ans die Phantasie berechnet, und fast ebenso gefährlich, als die Krankheit, der es abhelfen soll: die Idee der subjectiven Gerechtigkeit, die, dem Himmel und seiner Unthätigkeit zum Trotz, mit dem Hochmuth eines unfehlbaren Bewußtseins überall gewaltsam eingreift, und wie die Jesuiten und Illuminaten, die Mittel nicht besonders ansieht, die zum guten Zweck führen sollen. Selbst im Roman bringt es das französische Rechtsgefühl nicht weiter, als bis zum aufgeklärten Despotismus, denn diese Tugendhelden der Eugen Sue'sehen Romane, die Rudolfe n. s. w., spielen keine andere Rolle, als im Tartüffe der Bote des absoluten König«, der aus der souveränen Machtvollkommenheit seines unmittelbaren Nechtsbewußtseius das positive Recht dahin wendet, wo es ihm augen¬ blicklich paßt, wenn auch das moderne Frankreich romantisch genog denkt, dieses souveräne Rechtsgefühl von der äußerlich legitimirten Souveränität zu trennen, und so den verkappten Großherzog von Gerolstein zu einem zweiten Karl Moor zu machen, der seine Mulatten, Aerzte, Buhlerinnen u. s. w. ebenso verwendet, als der deutsche Wiederhersteller der göttlichen Weltordnung seine Libertins und Spitzbuben. Eugen Tue und die übrigen Moralisten seiner Branche haben bei ihrer epi¬ schen Objectivität immer noch den sittlichen Hintergedanken, wie Chauderlos de Laclos in seinen Liaisons dangereuses; Balzac und seine Schule läßt diesen pie¬ tistischen Hintergrund fallen, und stellt die verkehrte Welt des Unrechts mit aller Naivität einer zweiten Unschuld dar. Seine Romane, die am weitesten verbreitet sind — ?ore Koriot, I^e ßranä Komme av xrovmce, I'tüstoire nos treibe u. f. w. HttNjbottN. I. Isi».

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 8, 1849, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341563_277987/25>, abgerufen am 22.12.2024.