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Die Grenzboten. Jg. 8, 1849, I. Semester. I. Band.

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Herr Chaises, welcher clmisös ausgesprochen sein will, soll seiner Abkunft ein
polnischer Jude, seines Gewerbes Barbiergeselle sein. In Wien gewann er be¬
sonders nach dem 26. Mai unter den Vvrstädtern einige Bedeutung, wußte mit
unnachahmlicher Arroganz seine "Prinzipien" mit Hilfe einiger herabgekommener
Industrieritter seines Schlages den guten Spießbürgern beizubringen, wurde Be¬
gründer mehrerer "demokratischer und liberaler Vereine" und war unter den De¬
mokraten von Handwerk als ein geschicktes Factotum, ungefähr wie die Berliner
"Mädchen für Alles," angesehen. Seine maßlose Ignoranz, innig verwachsen mit
einer bodenlosen Charakterlosigkeit, verhinderte denselben nicht, selbst im Foyer
des Reichstages die Deputaten zu haranguiren, ihnen gute Rathschläge zu er¬
theilen, mit den Mitgliedern des Centrums Beefsteaks zu verzehren, der czechischen
Rechten gelegentlich Sottisen zu sagen, die Linke in seine demokratischen "Princi¬
pien" einzuweihen. Herr Chaises war der Unausweichliche, seine schnarrende
Stimme machte sich in allen Clubs bemerkbar, sein gemeines Gesicht mit den
hinter Brillen lauernden Fuchsaugen zeigte sich auf alleil Straßenecken und Rede-
bühucn, unermüdlich watete seine untersetzte Figur vou einer Vorstadt in die an¬
dere, von der Aula in den Reichstags""!, von der "Ente," dem Sitze des Cen-
tralcomitt-s, zum rothen Igel, vom Obercommando der Nationalgarde auf die
Werbeplätze der Freiwilligen. Obwohl ihn die Demokraten vom Handwerk als
unbezahlbar für ihre Zwecke betrachteten, bezweifelt doch eine gerechte Mitwelt,
daß Herr Chaises der guten Sache blos um seiner patriotischen Begeisterung und
des demokratischen Generalbewußtseins willen gedient habe. Herr Chaises wurde
endlich aus dem Ncichstagsfoyer hinausgewiesen, von allen politischen Parteien
mit offener Verachtung behandelt, von seinen eigenen Kollegen und "Brüdern"
des Unterschleifs von Geldern, des Diebstahls u. tgi. communistischer Tugenden
beschuldigt -- aber was kümmert das einen Mann, der "für die Sache der Frei¬
heit und der unverletzten Volkssouveränität glüht." Sein patriotisches Bewußt¬
sein hob ihn hoch empor über derlei spießbürgerliche Lebensanschauungen, sein
ganzes Streben war ja dem "Volke" geweiht! '

Herr Chaises wurde endlich in den Octobertagen Oberst des "demokratischen
Freikorps," welches er auf Werbung und Handgeld errichtete und als dessen Führer
er stets der Erste -- die Flucht ergriff; den eisernen Krallen der Militär-Unter-
suchungscommission wußte-er, mit Hilfe der göttlichen Vorsehung, welche das Le¬
ben dieses edlen Märtyrers zu Frommen und Heil unsers Jahrhunderts in beson¬
dern Schutz genommen, glücklich zu entrinnen. Wie mau erzählt, zehrt er nun
in einer friedlichen deutschen Stadt vou den Früchten seiner Demokratie.

Dies ist die Lebensgeschichte eines "Demokraten vom reinsten Wasser" in
unserm Jahrzehend. Wir haben ihr unsere volle Aufmerksamkeit gewidmet, indem
wir wünschen und hoffen, daß die Geschichte dieses edlen Märtyrers alsbald in


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Herr Chaises, welcher clmisös ausgesprochen sein will, soll seiner Abkunft ein
polnischer Jude, seines Gewerbes Barbiergeselle sein. In Wien gewann er be¬
sonders nach dem 26. Mai unter den Vvrstädtern einige Bedeutung, wußte mit
unnachahmlicher Arroganz seine „Prinzipien" mit Hilfe einiger herabgekommener
Industrieritter seines Schlages den guten Spießbürgern beizubringen, wurde Be¬
gründer mehrerer „demokratischer und liberaler Vereine" und war unter den De¬
mokraten von Handwerk als ein geschicktes Factotum, ungefähr wie die Berliner
„Mädchen für Alles," angesehen. Seine maßlose Ignoranz, innig verwachsen mit
einer bodenlosen Charakterlosigkeit, verhinderte denselben nicht, selbst im Foyer
des Reichstages die Deputaten zu haranguiren, ihnen gute Rathschläge zu er¬
theilen, mit den Mitgliedern des Centrums Beefsteaks zu verzehren, der czechischen
Rechten gelegentlich Sottisen zu sagen, die Linke in seine demokratischen „Princi¬
pien" einzuweihen. Herr Chaises war der Unausweichliche, seine schnarrende
Stimme machte sich in allen Clubs bemerkbar, sein gemeines Gesicht mit den
hinter Brillen lauernden Fuchsaugen zeigte sich auf alleil Straßenecken und Rede-
bühucn, unermüdlich watete seine untersetzte Figur vou einer Vorstadt in die an¬
dere, von der Aula in den Reichstags»«!, von der „Ente," dem Sitze des Cen-
tralcomitt-s, zum rothen Igel, vom Obercommando der Nationalgarde auf die
Werbeplätze der Freiwilligen. Obwohl ihn die Demokraten vom Handwerk als
unbezahlbar für ihre Zwecke betrachteten, bezweifelt doch eine gerechte Mitwelt,
daß Herr Chaises der guten Sache blos um seiner patriotischen Begeisterung und
des demokratischen Generalbewußtseins willen gedient habe. Herr Chaises wurde
endlich aus dem Ncichstagsfoyer hinausgewiesen, von allen politischen Parteien
mit offener Verachtung behandelt, von seinen eigenen Kollegen und „Brüdern"
des Unterschleifs von Geldern, des Diebstahls u. tgi. communistischer Tugenden
beschuldigt — aber was kümmert das einen Mann, der „für die Sache der Frei¬
heit und der unverletzten Volkssouveränität glüht." Sein patriotisches Bewußt¬
sein hob ihn hoch empor über derlei spießbürgerliche Lebensanschauungen, sein
ganzes Streben war ja dem „Volke" geweiht! '

Herr Chaises wurde endlich in den Octobertagen Oberst des „demokratischen
Freikorps," welches er auf Werbung und Handgeld errichtete und als dessen Führer
er stets der Erste — die Flucht ergriff; den eisernen Krallen der Militär-Unter-
suchungscommission wußte-er, mit Hilfe der göttlichen Vorsehung, welche das Le¬
ben dieses edlen Märtyrers zu Frommen und Heil unsers Jahrhunderts in beson¬
dern Schutz genommen, glücklich zu entrinnen. Wie mau erzählt, zehrt er nun
in einer friedlichen deutschen Stadt vou den Früchten seiner Demokratie.

Dies ist die Lebensgeschichte eines „Demokraten vom reinsten Wasser" in
unserm Jahrzehend. Wir haben ihr unsere volle Aufmerksamkeit gewidmet, indem
wir wünschen und hoffen, daß die Geschichte dieses edlen Märtyrers alsbald in


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[0115] Herr Chaises, welcher clmisös ausgesprochen sein will, soll seiner Abkunft ein polnischer Jude, seines Gewerbes Barbiergeselle sein. In Wien gewann er be¬ sonders nach dem 26. Mai unter den Vvrstädtern einige Bedeutung, wußte mit unnachahmlicher Arroganz seine „Prinzipien" mit Hilfe einiger herabgekommener Industrieritter seines Schlages den guten Spießbürgern beizubringen, wurde Be¬ gründer mehrerer „demokratischer und liberaler Vereine" und war unter den De¬ mokraten von Handwerk als ein geschicktes Factotum, ungefähr wie die Berliner „Mädchen für Alles," angesehen. Seine maßlose Ignoranz, innig verwachsen mit einer bodenlosen Charakterlosigkeit, verhinderte denselben nicht, selbst im Foyer des Reichstages die Deputaten zu haranguiren, ihnen gute Rathschläge zu er¬ theilen, mit den Mitgliedern des Centrums Beefsteaks zu verzehren, der czechischen Rechten gelegentlich Sottisen zu sagen, die Linke in seine demokratischen „Princi¬ pien" einzuweihen. Herr Chaises war der Unausweichliche, seine schnarrende Stimme machte sich in allen Clubs bemerkbar, sein gemeines Gesicht mit den hinter Brillen lauernden Fuchsaugen zeigte sich auf alleil Straßenecken und Rede- bühucn, unermüdlich watete seine untersetzte Figur vou einer Vorstadt in die an¬ dere, von der Aula in den Reichstags»«!, von der „Ente," dem Sitze des Cen- tralcomitt-s, zum rothen Igel, vom Obercommando der Nationalgarde auf die Werbeplätze der Freiwilligen. Obwohl ihn die Demokraten vom Handwerk als unbezahlbar für ihre Zwecke betrachteten, bezweifelt doch eine gerechte Mitwelt, daß Herr Chaises der guten Sache blos um seiner patriotischen Begeisterung und des demokratischen Generalbewußtseins willen gedient habe. Herr Chaises wurde endlich aus dem Ncichstagsfoyer hinausgewiesen, von allen politischen Parteien mit offener Verachtung behandelt, von seinen eigenen Kollegen und „Brüdern" des Unterschleifs von Geldern, des Diebstahls u. tgi. communistischer Tugenden beschuldigt — aber was kümmert das einen Mann, der „für die Sache der Frei¬ heit und der unverletzten Volkssouveränität glüht." Sein patriotisches Bewußt¬ sein hob ihn hoch empor über derlei spießbürgerliche Lebensanschauungen, sein ganzes Streben war ja dem „Volke" geweiht! ' Herr Chaises wurde endlich in den Octobertagen Oberst des „demokratischen Freikorps," welches er auf Werbung und Handgeld errichtete und als dessen Führer er stets der Erste — die Flucht ergriff; den eisernen Krallen der Militär-Unter- suchungscommission wußte-er, mit Hilfe der göttlichen Vorsehung, welche das Le¬ ben dieses edlen Märtyrers zu Frommen und Heil unsers Jahrhunderts in beson¬ dern Schutz genommen, glücklich zu entrinnen. Wie mau erzählt, zehrt er nun in einer friedlichen deutschen Stadt vou den Früchten seiner Demokratie. Dies ist die Lebensgeschichte eines „Demokraten vom reinsten Wasser" in unserm Jahrzehend. Wir haben ihr unsere volle Aufmerksamkeit gewidmet, indem wir wünschen und hoffen, daß die Geschichte dieses edlen Märtyrers alsbald in 14*

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 8, 1849, I. Semester. I. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341563_277987/115>, abgerufen am 22.12.2024.