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Die Grenzboten. Jg. 7, 1848, II. Semester. IV. Band.

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Ein Votum über die Reaction.



"Ihr klagt über Reaction!" sagt Hecker in seinem Abschiedswort an Deutsch¬
land. "Was ist Reaction? Nichts anders, als die Entfaltung der
Thätigkeit der friedlichen politischen Partei. Jede Revolution, welche
vom Gebiete der That hinübergeleitet auf den Boden der Discussion, zehrt sich
ans und wird von derjenigen Macht, welche durch die Revolution gestürzt werden
sollte, mit den Mitteln der Intrigue, der Bestechung, des Zögerns und Hinhal¬
tens, mit einem Wort, durch das Spiel politischer Betrügerei ausgebeutet und
zu Grunde gerichtet."

Die Politiker der rechten Mitte, die von der doppelten Entrüstung gegen
Reaction und Revolution ihr unbedeutendes Dasein fristen, werden finden, daß
dieser Ausspruch "zu weit geht." Ich kann mich nur wundern, wie jener mythische
Heros der neuen Zeit in seiner leidenschaftlichen Befangenheit die Sache so klar
übersehn hat. Freilich von seinem Standpunkt ans; ich würde mich anders aus¬
drücken.

Jede Revolution, welche gelingt, ist eine Naturnotwendigkeit; jede Revo¬
lution zieht mit derselben Naturnotwendigkeit die Reaction nach sich. Ein Mensch,
der vom Nervenfieber ergriffen wird, kann daran sterben, und dann entgeht er
der Reaction, aber ein Volt stirbt nicht, und wenn es sich berauscht hat, so rettet
es kein Gott vor der Gegenwirkung der Natur.

In der Revolution kreuzen sich zwei scheinbar entgegengesetzte Momente. Die
Revolution ist ein Aufheben des ordentlichen Laufs der Dinge. Im gewöhnlichen
Leben treibt man seine Geschäfte, ohne sie, wenigstens in ihrer Totalität, einer
Kritik zu unterzieh". Die Revolution geht aus einem großen kritischen Gedanken
hervor: sie stellt die Geltung der Gesetze, denen man bisher ohne Nachdenken folgte,
durch eine gewaltige Erschütterung in Frage. Im gewöhnlichen Leben regiert der
Weltgeist durch einen Naturproceß; zwar wird im Einzelnen viel Verstand und
Einsicht aufgeboten, im Ganzen aber fällt es der Menschheit nicht ein, das Recht
ihres reinen Begriffs gegen die Macht des Thatsächlichen geltend zu machen. In
der Revolution dagegen strebt der reine Begriff in seinem Gegensatz zur Wirklich¬
keit, also das Ideal, sich ohne Rücksicht ans das Gesetz des gewöhnlichen Weltlanfs
unmittelbar in That umzusetzen.


GrenMen. lo. 1848.
Ein Votum über die Reaction.



„Ihr klagt über Reaction!" sagt Hecker in seinem Abschiedswort an Deutsch¬
land. „Was ist Reaction? Nichts anders, als die Entfaltung der
Thätigkeit der friedlichen politischen Partei. Jede Revolution, welche
vom Gebiete der That hinübergeleitet auf den Boden der Discussion, zehrt sich
ans und wird von derjenigen Macht, welche durch die Revolution gestürzt werden
sollte, mit den Mitteln der Intrigue, der Bestechung, des Zögerns und Hinhal¬
tens, mit einem Wort, durch das Spiel politischer Betrügerei ausgebeutet und
zu Grunde gerichtet."

Die Politiker der rechten Mitte, die von der doppelten Entrüstung gegen
Reaction und Revolution ihr unbedeutendes Dasein fristen, werden finden, daß
dieser Ausspruch „zu weit geht." Ich kann mich nur wundern, wie jener mythische
Heros der neuen Zeit in seiner leidenschaftlichen Befangenheit die Sache so klar
übersehn hat. Freilich von seinem Standpunkt ans; ich würde mich anders aus¬
drücken.

Jede Revolution, welche gelingt, ist eine Naturnotwendigkeit; jede Revo¬
lution zieht mit derselben Naturnotwendigkeit die Reaction nach sich. Ein Mensch,
der vom Nervenfieber ergriffen wird, kann daran sterben, und dann entgeht er
der Reaction, aber ein Volt stirbt nicht, und wenn es sich berauscht hat, so rettet
es kein Gott vor der Gegenwirkung der Natur.

In der Revolution kreuzen sich zwei scheinbar entgegengesetzte Momente. Die
Revolution ist ein Aufheben des ordentlichen Laufs der Dinge. Im gewöhnlichen
Leben treibt man seine Geschäfte, ohne sie, wenigstens in ihrer Totalität, einer
Kritik zu unterzieh«. Die Revolution geht aus einem großen kritischen Gedanken
hervor: sie stellt die Geltung der Gesetze, denen man bisher ohne Nachdenken folgte,
durch eine gewaltige Erschütterung in Frage. Im gewöhnlichen Leben regiert der
Weltgeist durch einen Naturproceß; zwar wird im Einzelnen viel Verstand und
Einsicht aufgeboten, im Ganzen aber fällt es der Menschheit nicht ein, das Recht
ihres reinen Begriffs gegen die Macht des Thatsächlichen geltend zu machen. In
der Revolution dagegen strebt der reine Begriff in seinem Gegensatz zur Wirklich¬
keit, also das Ideal, sich ohne Rücksicht ans das Gesetz des gewöhnlichen Weltlanfs
unmittelbar in That umzusetzen.


GrenMen. lo. 1848.
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[0257] Ein Votum über die Reaction. „Ihr klagt über Reaction!" sagt Hecker in seinem Abschiedswort an Deutsch¬ land. „Was ist Reaction? Nichts anders, als die Entfaltung der Thätigkeit der friedlichen politischen Partei. Jede Revolution, welche vom Gebiete der That hinübergeleitet auf den Boden der Discussion, zehrt sich ans und wird von derjenigen Macht, welche durch die Revolution gestürzt werden sollte, mit den Mitteln der Intrigue, der Bestechung, des Zögerns und Hinhal¬ tens, mit einem Wort, durch das Spiel politischer Betrügerei ausgebeutet und zu Grunde gerichtet." Die Politiker der rechten Mitte, die von der doppelten Entrüstung gegen Reaction und Revolution ihr unbedeutendes Dasein fristen, werden finden, daß dieser Ausspruch „zu weit geht." Ich kann mich nur wundern, wie jener mythische Heros der neuen Zeit in seiner leidenschaftlichen Befangenheit die Sache so klar übersehn hat. Freilich von seinem Standpunkt ans; ich würde mich anders aus¬ drücken. Jede Revolution, welche gelingt, ist eine Naturnotwendigkeit; jede Revo¬ lution zieht mit derselben Naturnotwendigkeit die Reaction nach sich. Ein Mensch, der vom Nervenfieber ergriffen wird, kann daran sterben, und dann entgeht er der Reaction, aber ein Volt stirbt nicht, und wenn es sich berauscht hat, so rettet es kein Gott vor der Gegenwirkung der Natur. In der Revolution kreuzen sich zwei scheinbar entgegengesetzte Momente. Die Revolution ist ein Aufheben des ordentlichen Laufs der Dinge. Im gewöhnlichen Leben treibt man seine Geschäfte, ohne sie, wenigstens in ihrer Totalität, einer Kritik zu unterzieh«. Die Revolution geht aus einem großen kritischen Gedanken hervor: sie stellt die Geltung der Gesetze, denen man bisher ohne Nachdenken folgte, durch eine gewaltige Erschütterung in Frage. Im gewöhnlichen Leben regiert der Weltgeist durch einen Naturproceß; zwar wird im Einzelnen viel Verstand und Einsicht aufgeboten, im Ganzen aber fällt es der Menschheit nicht ein, das Recht ihres reinen Begriffs gegen die Macht des Thatsächlichen geltend zu machen. In der Revolution dagegen strebt der reine Begriff in seinem Gegensatz zur Wirklich¬ keit, also das Ideal, sich ohne Rücksicht ans das Gesetz des gewöhnlichen Weltlanfs unmittelbar in That umzusetzen. GrenMen. lo. 1848.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 7, 1848, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341561_276755/257>, abgerufen am 25.12.2024.