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Die Grenzboten. Jg. 6, 1847, I. Semester II. Band.

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sind am meisten dieser geistigen Todesurtheile ausgesetzt. De Lameuair, der
noch vor Jahren die ganze französische Jugend aufzuregen schien, ist heute
ein Lebcndigbegrabener. Die tiefen und geistreichen Werke Balzac's gehen
nur noch wie Gespenster in den unermeßlichen Anzeigen der Journale um.
Selbst Georg Sand, vielleicht die größte Erscheinung ihrer Zeit, ist schon
heute ohne allen innern und lebendigen Reiz für Frankreich, und lebt nur
noch von dem Anklänge, den sie meist fand. Victor Hugo ist in der Aca-
demie beigesetzt. Eugen Tue hat seine -Abschiedsprocesse, und Alexander
Dumas wurde zum Spott und Gelächter derselben Gesellschaft, die kaum
vor Wochen noch die Prinzen des königlichen Hauses, die Minister der Re¬
gierung, die ersten Namen der lumto voloe veranlaßte, ihm deu Hof zu
machen.

Die Männer fehlen nie einer Nation, die zum geistigen Leben erwacht
ist -- aber, wo diese Nation selbst sich dem geistigen Leben entzieht, sich
in den Strudel der materiellen Bestrebungen hinabstürzt, da fehlen bald der
Nation die Männer. Ich denke, das ist heute in Frankreich der Fall, und
dauert dieser Zustand lange genug, so kommt dann anch bald die Zeit, wo
die höhern Geister der Nation zu fehlen beginnen. So etwas ist unstreitig
schon heute in England der Fall. Das Land Schakespeares, das Land
Sternes, Byron's, Walter Scott's ist heute an geistiger Bethätigung das
ärmste der ganzen civilistrten Welt, aber hat zum Ersatz die colossalsten
statistischen Werke, die je die Welt gesehen hat.

Ich fürchte, Frankreich ist auf demselben Wege, und wird noch lauge,
wie früher England, an äußerer Macht zunehmen, aber auch an innerer
geistiger Thätigkeit hinschwinden. Und es ist ein erfreuliches Zeichen, daß
Deutschland grade jetzt weniger als je unter dem Einflüsse Frankreichs steht,
denn dieser Einfluß kann heute nur vom Bösen sein; was aber keineswegs
verhindert, daß Frankreich noch immer das Land ist, was Deutschland am
meisten zu bieten, von dem es am meisten zu fürchten hat, und noch mehr
zu hoffen, wenn es, seine innere Selbstständigkeit bewahrend, sich in seineu
äußern Bewegungen eher den Franzosen als irgend einem andern Volte
anschließt. Aber erfreulich ist es, daß Deutschland seit fünfzehn Jahren
immer mehr den innern politischen und literarischen Einfluß Frankreichs ab¬
geschüttelt hat, während alle andern Nationen ihm vor wie nach gehorchten.
Daran ist vor allem das eigne geistige Leben, das immer kräftiger in Deutsch¬
land hervortritt, Schuld. Es ist dasselbe vielleicht noch lange nicht auf die
Stufe angelangt, auf der Frankreich einst stand, und deren sich fortpflan^
zender Wellenschlag wir noch heute in Frankreich sehen. Aber das geistige


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sind am meisten dieser geistigen Todesurtheile ausgesetzt. De Lameuair, der
noch vor Jahren die ganze französische Jugend aufzuregen schien, ist heute
ein Lebcndigbegrabener. Die tiefen und geistreichen Werke Balzac's gehen
nur noch wie Gespenster in den unermeßlichen Anzeigen der Journale um.
Selbst Georg Sand, vielleicht die größte Erscheinung ihrer Zeit, ist schon
heute ohne allen innern und lebendigen Reiz für Frankreich, und lebt nur
noch von dem Anklänge, den sie meist fand. Victor Hugo ist in der Aca-
demie beigesetzt. Eugen Tue hat seine -Abschiedsprocesse, und Alexander
Dumas wurde zum Spott und Gelächter derselben Gesellschaft, die kaum
vor Wochen noch die Prinzen des königlichen Hauses, die Minister der Re¬
gierung, die ersten Namen der lumto voloe veranlaßte, ihm deu Hof zu
machen.

Die Männer fehlen nie einer Nation, die zum geistigen Leben erwacht
ist — aber, wo diese Nation selbst sich dem geistigen Leben entzieht, sich
in den Strudel der materiellen Bestrebungen hinabstürzt, da fehlen bald der
Nation die Männer. Ich denke, das ist heute in Frankreich der Fall, und
dauert dieser Zustand lange genug, so kommt dann anch bald die Zeit, wo
die höhern Geister der Nation zu fehlen beginnen. So etwas ist unstreitig
schon heute in England der Fall. Das Land Schakespeares, das Land
Sternes, Byron's, Walter Scott's ist heute an geistiger Bethätigung das
ärmste der ganzen civilistrten Welt, aber hat zum Ersatz die colossalsten
statistischen Werke, die je die Welt gesehen hat.

Ich fürchte, Frankreich ist auf demselben Wege, und wird noch lauge,
wie früher England, an äußerer Macht zunehmen, aber auch an innerer
geistiger Thätigkeit hinschwinden. Und es ist ein erfreuliches Zeichen, daß
Deutschland grade jetzt weniger als je unter dem Einflüsse Frankreichs steht,
denn dieser Einfluß kann heute nur vom Bösen sein; was aber keineswegs
verhindert, daß Frankreich noch immer das Land ist, was Deutschland am
meisten zu bieten, von dem es am meisten zu fürchten hat, und noch mehr
zu hoffen, wenn es, seine innere Selbstständigkeit bewahrend, sich in seineu
äußern Bewegungen eher den Franzosen als irgend einem andern Volte
anschließt. Aber erfreulich ist es, daß Deutschland seit fünfzehn Jahren
immer mehr den innern politischen und literarischen Einfluß Frankreichs ab¬
geschüttelt hat, während alle andern Nationen ihm vor wie nach gehorchten.
Daran ist vor allem das eigne geistige Leben, das immer kräftiger in Deutsch¬
land hervortritt, Schuld. Es ist dasselbe vielleicht noch lange nicht auf die
Stufe angelangt, auf der Frankreich einst stand, und deren sich fortpflan^
zender Wellenschlag wir noch heute in Frankreich sehen. Aber das geistige


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 6, 1847, I. Semester II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341559_271898/59>, abgerufen am 22.07.2024.