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Die Grenzboten. Jg. 6, 1847, I. Semester II. Band.

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rührt, daß die Tochter von ihrem Bräutigam im Stich gelassen wird, daß
sie sich endlich ersäuft; er muß fühlen, daß er sie selber zu diesem Schritt
durch seiue Drohungen gedrängt hat, und was ist seine erste Empfindung,
als er von ihrem Tod benachrichtigt wird? "Hoffentlich hat man nicht ge¬
sehen, daß sie sich selbst getödtet hat, dann bleibt mir die Schande erspart!"
Ich muß gestehen, daß mir einem solchen Vater gegenüber die naive Nie¬
derträchtigkeit eines Leonhard noch wie ein sittliches Ideal vorkommt.

Da ist alles Reflexion! alles erfunden! Hebbel ist bei aller Macht seiner
Phantasie im eigentlichsten Grund seiner Schöpfung ein Verstaudesdichter
wie Lessing, aber ohne dessen kritischen Tact. Seine Sprache fließt uicht den
natürlichen Lauf des Gefühls, das sich selber vergessen muß -- sie ist anti¬
thetisch, zerbröckelt; überall scheint es, als habe der Dichter erst einen Cha¬
rakter in abstracto sich erdacht, und frage sich uun in jedem bestimmten Fall: wie
muß dieser sich ausdrücken? Seine Probleme kommen nicht ans dein Herzen,
sie kommen aus eiuer durch die Reflexion befleckten Phantasie. Es ist mög¬
lich, daß es Frauenzimmer gibt, die eine That begehen, wie Maria Mag-
dalena; daß es Väter gibt, die, wenn der Würgengel des Todes ihre ganze
Familie hinwegrafft, ähnliche Bemerkungen zu machen im Stande sind; die
dann, um sich ein Relief zu geben, hinzusetzen: Ich verstehe die Welt nicht
mehr! Aber was hat die Poesie mit solchen Mißgeburten zu thun! Wenn
der Dichter mit raffinirter Wollust sich selber einen wunderbar verwickelten
psychischen Knoten knüpft, und ihn dann zerhaue, weil er ihn nicht auslösen
kauu, so schaudern wir, aber wir werden nicht erschüttert, obgleich die mei¬
sterhafte, grandiose Ausführung dieses häßlichen Problems eines Shakespeare
würdig wäre. Es ist ebenso wie mit der Ermordung der Emilie Galotti;
wenn die Heldin nicht sicher genug ist, der Verführung uicht zu erliegen,
und doch die Unkeuschheit für eine Todsünde ansieht, so bleibt ihr freilich
nichts anders übrig, als sich allenfalls mit einer Haarnadel zu erstechen; und
wenn Maria Magdalena -- aber wozu das häßliche Bild noch einmal wie¬
derholen !

Seit Shakespeare ist die Poesie in die Tiefen der Subjectivität hinab-
gestiegen, er hat die sittlichen Conflicte in das Innere des Menschen ver¬
legt. Aber diese inneren Kämpfe mußten jedes unbefangene Herz erschüttern,
weil sie einfach waren, weil die bloße Willkür, das bloße Schwangerschafts-
Gelüst dem Adel seiner Phantasie fern blieb. Die neuern Dichter aber
brechen die Spitze des Witzes, weil sie dieselbe bis in's Unsichtbare schärfen;
sie werden komisch, weil sie zu schrecklich sind. Hamlet oder Kleopatra und
Richard III. siud die Vorbilder der modernen Poesie, der romantisirte, mit


rührt, daß die Tochter von ihrem Bräutigam im Stich gelassen wird, daß
sie sich endlich ersäuft; er muß fühlen, daß er sie selber zu diesem Schritt
durch seiue Drohungen gedrängt hat, und was ist seine erste Empfindung,
als er von ihrem Tod benachrichtigt wird? „Hoffentlich hat man nicht ge¬
sehen, daß sie sich selbst getödtet hat, dann bleibt mir die Schande erspart!"
Ich muß gestehen, daß mir einem solchen Vater gegenüber die naive Nie¬
derträchtigkeit eines Leonhard noch wie ein sittliches Ideal vorkommt.

Da ist alles Reflexion! alles erfunden! Hebbel ist bei aller Macht seiner
Phantasie im eigentlichsten Grund seiner Schöpfung ein Verstaudesdichter
wie Lessing, aber ohne dessen kritischen Tact. Seine Sprache fließt uicht den
natürlichen Lauf des Gefühls, das sich selber vergessen muß — sie ist anti¬
thetisch, zerbröckelt; überall scheint es, als habe der Dichter erst einen Cha¬
rakter in abstracto sich erdacht, und frage sich uun in jedem bestimmten Fall: wie
muß dieser sich ausdrücken? Seine Probleme kommen nicht ans dein Herzen,
sie kommen aus eiuer durch die Reflexion befleckten Phantasie. Es ist mög¬
lich, daß es Frauenzimmer gibt, die eine That begehen, wie Maria Mag-
dalena; daß es Väter gibt, die, wenn der Würgengel des Todes ihre ganze
Familie hinwegrafft, ähnliche Bemerkungen zu machen im Stande sind; die
dann, um sich ein Relief zu geben, hinzusetzen: Ich verstehe die Welt nicht
mehr! Aber was hat die Poesie mit solchen Mißgeburten zu thun! Wenn
der Dichter mit raffinirter Wollust sich selber einen wunderbar verwickelten
psychischen Knoten knüpft, und ihn dann zerhaue, weil er ihn nicht auslösen
kauu, so schaudern wir, aber wir werden nicht erschüttert, obgleich die mei¬
sterhafte, grandiose Ausführung dieses häßlichen Problems eines Shakespeare
würdig wäre. Es ist ebenso wie mit der Ermordung der Emilie Galotti;
wenn die Heldin nicht sicher genug ist, der Verführung uicht zu erliegen,
und doch die Unkeuschheit für eine Todsünde ansieht, so bleibt ihr freilich
nichts anders übrig, als sich allenfalls mit einer Haarnadel zu erstechen; und
wenn Maria Magdalena — aber wozu das häßliche Bild noch einmal wie¬
derholen !

Seit Shakespeare ist die Poesie in die Tiefen der Subjectivität hinab-
gestiegen, er hat die sittlichen Conflicte in das Innere des Menschen ver¬
legt. Aber diese inneren Kämpfe mußten jedes unbefangene Herz erschüttern,
weil sie einfach waren, weil die bloße Willkür, das bloße Schwangerschafts-
Gelüst dem Adel seiner Phantasie fern blieb. Die neuern Dichter aber
brechen die Spitze des Witzes, weil sie dieselbe bis in's Unsichtbare schärfen;
sie werden komisch, weil sie zu schrecklich sind. Hamlet oder Kleopatra und
Richard III. siud die Vorbilder der modernen Poesie, der romantisirte, mit


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[0516] rührt, daß die Tochter von ihrem Bräutigam im Stich gelassen wird, daß sie sich endlich ersäuft; er muß fühlen, daß er sie selber zu diesem Schritt durch seiue Drohungen gedrängt hat, und was ist seine erste Empfindung, als er von ihrem Tod benachrichtigt wird? „Hoffentlich hat man nicht ge¬ sehen, daß sie sich selbst getödtet hat, dann bleibt mir die Schande erspart!" Ich muß gestehen, daß mir einem solchen Vater gegenüber die naive Nie¬ derträchtigkeit eines Leonhard noch wie ein sittliches Ideal vorkommt. Da ist alles Reflexion! alles erfunden! Hebbel ist bei aller Macht seiner Phantasie im eigentlichsten Grund seiner Schöpfung ein Verstaudesdichter wie Lessing, aber ohne dessen kritischen Tact. Seine Sprache fließt uicht den natürlichen Lauf des Gefühls, das sich selber vergessen muß — sie ist anti¬ thetisch, zerbröckelt; überall scheint es, als habe der Dichter erst einen Cha¬ rakter in abstracto sich erdacht, und frage sich uun in jedem bestimmten Fall: wie muß dieser sich ausdrücken? Seine Probleme kommen nicht ans dein Herzen, sie kommen aus eiuer durch die Reflexion befleckten Phantasie. Es ist mög¬ lich, daß es Frauenzimmer gibt, die eine That begehen, wie Maria Mag- dalena; daß es Väter gibt, die, wenn der Würgengel des Todes ihre ganze Familie hinwegrafft, ähnliche Bemerkungen zu machen im Stande sind; die dann, um sich ein Relief zu geben, hinzusetzen: Ich verstehe die Welt nicht mehr! Aber was hat die Poesie mit solchen Mißgeburten zu thun! Wenn der Dichter mit raffinirter Wollust sich selber einen wunderbar verwickelten psychischen Knoten knüpft, und ihn dann zerhaue, weil er ihn nicht auslösen kauu, so schaudern wir, aber wir werden nicht erschüttert, obgleich die mei¬ sterhafte, grandiose Ausführung dieses häßlichen Problems eines Shakespeare würdig wäre. Es ist ebenso wie mit der Ermordung der Emilie Galotti; wenn die Heldin nicht sicher genug ist, der Verführung uicht zu erliegen, und doch die Unkeuschheit für eine Todsünde ansieht, so bleibt ihr freilich nichts anders übrig, als sich allenfalls mit einer Haarnadel zu erstechen; und wenn Maria Magdalena — aber wozu das häßliche Bild noch einmal wie¬ derholen ! Seit Shakespeare ist die Poesie in die Tiefen der Subjectivität hinab- gestiegen, er hat die sittlichen Conflicte in das Innere des Menschen ver¬ legt. Aber diese inneren Kämpfe mußten jedes unbefangene Herz erschüttern, weil sie einfach waren, weil die bloße Willkür, das bloße Schwangerschafts- Gelüst dem Adel seiner Phantasie fern blieb. Die neuern Dichter aber brechen die Spitze des Witzes, weil sie dieselbe bis in's Unsichtbare schärfen; sie werden komisch, weil sie zu schrecklich sind. Hamlet oder Kleopatra und Richard III. siud die Vorbilder der modernen Poesie, der romantisirte, mit

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 6, 1847, I. Semester II. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341559_271898/516>, abgerufen am 22.07.2024.