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Die Grenzboten. Jg. 6, 1847, II. Semester. IV. Band.

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die wirkliche Welt als die beste construirte, so scandalisirte das die Hengstenberg'S
der damaligen Zeit, deren Maulwurfsange in der Wirklichkeit nur das gottlose
Treiben einer von ihrem Schöpfer abgefallenen Natur sah; sie wußten die Philo¬
sophie anrüchig zu machen und vom Katheder zu vertreiben; aber die Freisinnig-
keit des großen Königs führte den vertriebenen Denker, obgleich er dessen schola¬
stisches Treiben nicht leiden mochte, wieder nach Halle zurück, und die Ortho¬
doxen mußten sich wohl oder übel, wenn ihre Bänke nicht leer bleiben sollten, be¬
quemen, bei dem Sophisten in die Schule zu gehen.

Seit der Zeit ist Halle einer der vornehmsten Schauplätze gewesen, in denen
der Streit des Nationalismus und des Supernaturalismus ausgefochten wurde,
d. h. der beiden Systeme, von denen das eine die Vernunft als den Maaßstab
aller Dinge im Himmel und auf Erden verehrte, das andere die Uebervernunft,
oder wenn wir wollen, die Unvernunft. Es ist seit den Zeiten der Schelling'-
schen und Hegel'scheu Theologie Mode geworden, auf deu Rationalismus als auf
das Extrem aller Flachheit und UnPhilosophie herabzusehen, und die Heiligen
nahmen diese Ansicht ihrer Gegner, deren System aus der genialen Jnspirations-
Jdee unserer Sturm- und Drangperiode hervorging, utiliter an; sie hatten eine in¬
nere Schadenfreude, wenn die hochmüthige Vernunft mit ihren eigenen Waffen ge¬
schlagen wurde. Ich will auch keineswegs in Abrede stellen, daß das alte Sy¬
stem des Rationalismus ein Chaos voller Widersprüche war; daß sein Glaube an
den außerweltlichen Gott, dem alle wirkliche Macht, an den außerweltlichen Him¬
mel, dem aller Spielraum und aller Inhalt genommen war, eine wissenschaftliche
Inconsequenz zu nennen ist. Aber sein Princip: daß nur das vom Begriffe ge¬
schulte menschliche Rechtsgefühl ein Ausleger des göttlichen' Wesens und des gött¬
lichen Willens sein dürfe -- war unstreitig das richtige, und alle Ironie der ge¬
nialen Subjectivität, alle Sophismen der Reflexion, alle Einfälle der Mystik send
nicht im Stande gewesen, es zu erschüttern.

Von den Vorkämpfern des Nationalismus ist nur uoch Wegsch eider ub,
rig. Er hat an dem alten Standpunkt seines Systems festgehalten, er ist Christ
geblieben, aber indem er das Christenthum als eine Verwirklichung des mensch¬
lichen Gefühls und der menschlichen Vernunft interpretirt hat. Er steht innerhalb
der Kirche, aber der eigentlich protestantischen, die das Denken zu einer wesentli¬
chen Function der Religiosität gemacht hat. Er läßt der Offenbarung das Recht,
das er jeder Lehre zuerkennt, so weit Autorität zu sein, als sie mit der Vernunft
übereinstimmt. Den speculativ-mystischen Theil der Religion, der auf die Sittlich¬
keit keinen unmittelbaren Einfluß ausübt, ehrt er als würdige Reliquie der Geschichte,
aber er kümmert sich wenig darum. Diese alten Rationalisten, zu denen sich auch
einige der späteren Lehrer gesellen, z. B. Niemeyer, derDirektor des Waisenhauses,
können sich eigentlich als legitime Vertreter der historischen Kirche betrachten, denn
der moderne Supernaturalismus ist eine Reaction, er ist ein neues religiöses Ferment,


die wirkliche Welt als die beste construirte, so scandalisirte das die Hengstenberg'S
der damaligen Zeit, deren Maulwurfsange in der Wirklichkeit nur das gottlose
Treiben einer von ihrem Schöpfer abgefallenen Natur sah; sie wußten die Philo¬
sophie anrüchig zu machen und vom Katheder zu vertreiben; aber die Freisinnig-
keit des großen Königs führte den vertriebenen Denker, obgleich er dessen schola¬
stisches Treiben nicht leiden mochte, wieder nach Halle zurück, und die Ortho¬
doxen mußten sich wohl oder übel, wenn ihre Bänke nicht leer bleiben sollten, be¬
quemen, bei dem Sophisten in die Schule zu gehen.

Seit der Zeit ist Halle einer der vornehmsten Schauplätze gewesen, in denen
der Streit des Nationalismus und des Supernaturalismus ausgefochten wurde,
d. h. der beiden Systeme, von denen das eine die Vernunft als den Maaßstab
aller Dinge im Himmel und auf Erden verehrte, das andere die Uebervernunft,
oder wenn wir wollen, die Unvernunft. Es ist seit den Zeiten der Schelling'-
schen und Hegel'scheu Theologie Mode geworden, auf deu Rationalismus als auf
das Extrem aller Flachheit und UnPhilosophie herabzusehen, und die Heiligen
nahmen diese Ansicht ihrer Gegner, deren System aus der genialen Jnspirations-
Jdee unserer Sturm- und Drangperiode hervorging, utiliter an; sie hatten eine in¬
nere Schadenfreude, wenn die hochmüthige Vernunft mit ihren eigenen Waffen ge¬
schlagen wurde. Ich will auch keineswegs in Abrede stellen, daß das alte Sy¬
stem des Rationalismus ein Chaos voller Widersprüche war; daß sein Glaube an
den außerweltlichen Gott, dem alle wirkliche Macht, an den außerweltlichen Him¬
mel, dem aller Spielraum und aller Inhalt genommen war, eine wissenschaftliche
Inconsequenz zu nennen ist. Aber sein Princip: daß nur das vom Begriffe ge¬
schulte menschliche Rechtsgefühl ein Ausleger des göttlichen' Wesens und des gött¬
lichen Willens sein dürfe — war unstreitig das richtige, und alle Ironie der ge¬
nialen Subjectivität, alle Sophismen der Reflexion, alle Einfälle der Mystik send
nicht im Stande gewesen, es zu erschüttern.

Von den Vorkämpfern des Nationalismus ist nur uoch Wegsch eider ub,
rig. Er hat an dem alten Standpunkt seines Systems festgehalten, er ist Christ
geblieben, aber indem er das Christenthum als eine Verwirklichung des mensch¬
lichen Gefühls und der menschlichen Vernunft interpretirt hat. Er steht innerhalb
der Kirche, aber der eigentlich protestantischen, die das Denken zu einer wesentli¬
chen Function der Religiosität gemacht hat. Er läßt der Offenbarung das Recht,
das er jeder Lehre zuerkennt, so weit Autorität zu sein, als sie mit der Vernunft
übereinstimmt. Den speculativ-mystischen Theil der Religion, der auf die Sittlich¬
keit keinen unmittelbaren Einfluß ausübt, ehrt er als würdige Reliquie der Geschichte,
aber er kümmert sich wenig darum. Diese alten Rationalisten, zu denen sich auch
einige der späteren Lehrer gesellen, z. B. Niemeyer, derDirektor des Waisenhauses,
können sich eigentlich als legitime Vertreter der historischen Kirche betrachten, denn
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 6, 1847, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341559_184763/466>, abgerufen am 22.07.2024.