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Die Grenzboten. Jg. 6, 1847, II. Semester. IV. Band.

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erst im Einzelnen ahnen können, begeben wir uns in unser Planetensystem, das,
eine Weltinsel, in dem eignen Gesetz uns erkennbar, in seiner Beziehung zum
Weltall noch verborgen ist. Hier ist es nicht mehr das bloße Gesetz der Bewe¬
gung, das unsre Aufmerksamkeit fesselt; die Bewegung wird zu einer Einwirkung
verschiedener Kräfte aufeinander, diese Kräfte setzen eine Substanz voraus, und
so kaun sich auch die Beschaffenheit jener Himmelskörper unserm Geiste nicht mehr
entziehen. Wir sehen, wie das Gesetz der Notation, das uns von ferne schwin¬
delnd ergreift, in der Form der Anziehung uns unmittelbar gegenwärtig ist. --
"Was ist das größte Geheimniß?" fragt einer der Entsagenden in Goethes Wan-
derjahren. "Das offenbare." -- Ueberall ist es nicht eine bloße Beschreibung des
Gesetzes, sondern die Weise, wie wir uns deö Gesetzes bewußt werden. Die Be¬
trachtung der kleinsten, unscheinbarsten Gestalten deö Weltalls, der Monde, gibt
uns dnrch gleichsam sinnige Einfälle das Wort deö Räthsels, das wir in der
Betrachtung des Großen vergebens suchten. So erhalten wir uns selbst in der
Betrachtung der Unendlichkeit; sie hat für uns kein Grauen mehr, sobald wir nur
im Einzelnen bestimmte Formen verfolgen. Selbst die gespenstische Erscheinung
jener schattenhaften Kometen, die in den Zeiten des naiven Aberglaubens uur als
Zuchtrnthen Gottes, als Schreckbilder der Welt aufgefaßt wurden, hört ans für
uns ein Mysterium zu sein.

Wir treten ans der Ferne des Himmels heraus und versenken uns in die
Tiefe unsrer eignen Welt, die uns viel mystischer und fremdartiger vorkommt,
weil wir sie nicht in einer einfachen abstracten Form, sondern concret wahrneh¬
men und empfinden. Ein Gesetz des Weltalls fließt in das andere; dnrch den
Himmel orientiren wir uus auf unserer Erde. Die "Nachtseite" der Erde, wie Schu¬
bert es nennt, d. h. die von der Sonne unabhängige, dem Planeten eigenthüm¬
liche Lichtgewalt, das magnetische Zucken seiner Nerven, das in der "magnetischen
Somnambule" der Boussole sein Organ findet, seine organische Bildung, der
fortdauernde Gährungsprozeß in seinen Eingeweiden, die chemische Wechselwirkung
Zwischen Erde, Mond und Sonne -- alles das entfaltet sich gleichzeitig vor un¬
sern erstaunten Blicken. Auch die Vergangenheit muß uns ihre Geheimnisse er¬
schließen; die Geschichte des Erdballs ist von keinem Menschen belauscht, keine
^Menblätter melden uns von der Revolution, die ihm seine gegenwärtige Gestalt
kleben, aber die Wissenschaft hat das Siegel Salomonis, dem die Geister Rede
stehen müssen. So werden selbst die todten Schlacken der unorganischen Natur
sterbe Zeugen von dem Leben und der Geschichte der alten Bergmutter Gäa,
der Allerzeugeriu, und in die Gluth, die nur in vereinzelnten, grauenhaften Aus-
brüchen sich den Sinnen erschließt, senkt sich bis in den innersten Schacht das
Senkblei des Geistes. In diesem universellen Leben der Erde wird, was wir
eigentlich Leben nennen, der Organismus der Pflanzen- und Thierwelt, als ein
deines, aber darum nicht niedrigeres Moment ausgenommen; die Sprödigkeit deö


erst im Einzelnen ahnen können, begeben wir uns in unser Planetensystem, das,
eine Weltinsel, in dem eignen Gesetz uns erkennbar, in seiner Beziehung zum
Weltall noch verborgen ist. Hier ist es nicht mehr das bloße Gesetz der Bewe¬
gung, das unsre Aufmerksamkeit fesselt; die Bewegung wird zu einer Einwirkung
verschiedener Kräfte aufeinander, diese Kräfte setzen eine Substanz voraus, und
so kaun sich auch die Beschaffenheit jener Himmelskörper unserm Geiste nicht mehr
entziehen. Wir sehen, wie das Gesetz der Notation, das uns von ferne schwin¬
delnd ergreift, in der Form der Anziehung uns unmittelbar gegenwärtig ist. —
„Was ist das größte Geheimniß?" fragt einer der Entsagenden in Goethes Wan-
derjahren. „Das offenbare." — Ueberall ist es nicht eine bloße Beschreibung des
Gesetzes, sondern die Weise, wie wir uns deö Gesetzes bewußt werden. Die Be¬
trachtung der kleinsten, unscheinbarsten Gestalten deö Weltalls, der Monde, gibt
uns dnrch gleichsam sinnige Einfälle das Wort deö Räthsels, das wir in der
Betrachtung des Großen vergebens suchten. So erhalten wir uns selbst in der
Betrachtung der Unendlichkeit; sie hat für uns kein Grauen mehr, sobald wir nur
im Einzelnen bestimmte Formen verfolgen. Selbst die gespenstische Erscheinung
jener schattenhaften Kometen, die in den Zeiten des naiven Aberglaubens uur als
Zuchtrnthen Gottes, als Schreckbilder der Welt aufgefaßt wurden, hört ans für
uns ein Mysterium zu sein.

Wir treten ans der Ferne des Himmels heraus und versenken uns in die
Tiefe unsrer eignen Welt, die uns viel mystischer und fremdartiger vorkommt,
weil wir sie nicht in einer einfachen abstracten Form, sondern concret wahrneh¬
men und empfinden. Ein Gesetz des Weltalls fließt in das andere; dnrch den
Himmel orientiren wir uus auf unserer Erde. Die „Nachtseite" der Erde, wie Schu¬
bert es nennt, d. h. die von der Sonne unabhängige, dem Planeten eigenthüm¬
liche Lichtgewalt, das magnetische Zucken seiner Nerven, das in der „magnetischen
Somnambule" der Boussole sein Organ findet, seine organische Bildung, der
fortdauernde Gährungsprozeß in seinen Eingeweiden, die chemische Wechselwirkung
Zwischen Erde, Mond und Sonne — alles das entfaltet sich gleichzeitig vor un¬
sern erstaunten Blicken. Auch die Vergangenheit muß uns ihre Geheimnisse er¬
schließen; die Geschichte des Erdballs ist von keinem Menschen belauscht, keine
^Menblätter melden uns von der Revolution, die ihm seine gegenwärtige Gestalt
kleben, aber die Wissenschaft hat das Siegel Salomonis, dem die Geister Rede
stehen müssen. So werden selbst die todten Schlacken der unorganischen Natur
sterbe Zeugen von dem Leben und der Geschichte der alten Bergmutter Gäa,
der Allerzeugeriu, und in die Gluth, die nur in vereinzelnten, grauenhaften Aus-
brüchen sich den Sinnen erschließt, senkt sich bis in den innersten Schacht das
Senkblei des Geistes. In diesem universellen Leben der Erde wird, was wir
eigentlich Leben nennen, der Organismus der Pflanzen- und Thierwelt, als ein
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 6, 1847, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341559_184763/327>, abgerufen am 22.07.2024.