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Die Grenzboten. Jg. 5, 1846, II. Semester. IV. Band.

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noch literarische, in welche er die Gegenstände und den Ertrag seines
Lesens einschrieb, ferner solche, die er politische nannte, in welchen er
bestimmte Staatshandlungen in ihrer Abwicklung verfolgte, und von
denen die bekannte Denkschrift über die Octobertage 18W ein glanz¬
volles Beispiel ist.

Gentz bewahrte seine Anmerkungen sorgsam und legte von jeden" Jahre
ein abgeschlossenes Heft zu dem wachsenden Vorrache. Jedoch scheint
er geraume Zeit sie nicht wieder durchgesehen zu haben; denn als er
dies in spätern Jahren einmal that, waren ihm viele der dort erwähn¬
ten Vorgänge gar nicht mehr erinnerlich, oder doch die nähern Be¬
ziehungen entschwunden. Die Aufzeichnung so vieler Einzelheiten,
welche ohne ihren eigentlichen Zusammenhang mit dem übrigen Leben
allerdings mir wenig besagen konnten, zuweilen auch wohl einen fal¬
schen Schein, einen gar nicht gemeinten Sinn durch die Absonderung
empfingen, wurde ihm beim Wiederlesen mißfällig und in vielem Be¬
tracht sogar bedenklich, er beschloß, diese ganze Masse von Heften zu
vernichten, jedoch vorher das ihm damals noch persönlich Wichtige oder
sonst Bemerkenswerthe daraus in gedrängter Kürze auszuziehen und
zu bewahren. Hierbei leitete ihn hauptsächlich der Zweck, die Masse
des jetzt nutzlosen und Ueberflüssigen wegzuschaffen, auch manche Ver¬
hältnisse und Menschen zu schonen, nicht im Geringsten aber die Ab¬
sicht, seine eignen Fehler und Verirrungen zu verdecken, und seine Ver¬
gangenheit in's Schöne zu malen; die rückhaltlose Aufrichtigkeit in
Betreff seiner selbst verläugnete er auch in der neuen Abfassung nicht.
DaS große Unternehmen, diese Auszüge zu machen, scheint Gentz um
das Jahr 1829 begonnen, und in kurzer Zeit, unter allen Geschäfts¬
arbeiten und Zerstreuungen, in denen er stets befangen war, führte er
dasselbe so weit, daß er die solchergestalt ausgebeuteten, bis zum
Schlüsse des Jahres 1814 führenden ursprünglichen Tagebücher den
Flammen übergeben konnte. Bis zu dem genannten Zeitpunkt ist da¬
her nur der Auszug als vorhanden anzunehmen, aus den folgenden
Jahren jedoch sollen, wie versichert wird, noch eine ziemliche Anzahl
der ursprünglichen Notate übrig sein, weil die ausziehende und dann
zerstörende Hand an sie erst kommen sollte. Herzensbeschäftignng, mit
welcher Gentz unerwartet in den letzten Lebensjahren auf's Neue sich
erfüllt sah, und gleich darauf die neuen Erschütterungen der politischen
Welt durch die Julirevolution, haben ihm, wie es scheint, jene Arbeit
aus dem Sinn gerückt, und der Tod ließ ihm keine Zeit, sie wieder
aufzunehmen.


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noch literarische, in welche er die Gegenstände und den Ertrag seines
Lesens einschrieb, ferner solche, die er politische nannte, in welchen er
bestimmte Staatshandlungen in ihrer Abwicklung verfolgte, und von
denen die bekannte Denkschrift über die Octobertage 18W ein glanz¬
volles Beispiel ist.

Gentz bewahrte seine Anmerkungen sorgsam und legte von jeden» Jahre
ein abgeschlossenes Heft zu dem wachsenden Vorrache. Jedoch scheint
er geraume Zeit sie nicht wieder durchgesehen zu haben; denn als er
dies in spätern Jahren einmal that, waren ihm viele der dort erwähn¬
ten Vorgänge gar nicht mehr erinnerlich, oder doch die nähern Be¬
ziehungen entschwunden. Die Aufzeichnung so vieler Einzelheiten,
welche ohne ihren eigentlichen Zusammenhang mit dem übrigen Leben
allerdings mir wenig besagen konnten, zuweilen auch wohl einen fal¬
schen Schein, einen gar nicht gemeinten Sinn durch die Absonderung
empfingen, wurde ihm beim Wiederlesen mißfällig und in vielem Be¬
tracht sogar bedenklich, er beschloß, diese ganze Masse von Heften zu
vernichten, jedoch vorher das ihm damals noch persönlich Wichtige oder
sonst Bemerkenswerthe daraus in gedrängter Kürze auszuziehen und
zu bewahren. Hierbei leitete ihn hauptsächlich der Zweck, die Masse
des jetzt nutzlosen und Ueberflüssigen wegzuschaffen, auch manche Ver¬
hältnisse und Menschen zu schonen, nicht im Geringsten aber die Ab¬
sicht, seine eignen Fehler und Verirrungen zu verdecken, und seine Ver¬
gangenheit in's Schöne zu malen; die rückhaltlose Aufrichtigkeit in
Betreff seiner selbst verläugnete er auch in der neuen Abfassung nicht.
DaS große Unternehmen, diese Auszüge zu machen, scheint Gentz um
das Jahr 1829 begonnen, und in kurzer Zeit, unter allen Geschäfts¬
arbeiten und Zerstreuungen, in denen er stets befangen war, führte er
dasselbe so weit, daß er die solchergestalt ausgebeuteten, bis zum
Schlüsse des Jahres 1814 führenden ursprünglichen Tagebücher den
Flammen übergeben konnte. Bis zu dem genannten Zeitpunkt ist da¬
her nur der Auszug als vorhanden anzunehmen, aus den folgenden
Jahren jedoch sollen, wie versichert wird, noch eine ziemliche Anzahl
der ursprünglichen Notate übrig sein, weil die ausziehende und dann
zerstörende Hand an sie erst kommen sollte. Herzensbeschäftignng, mit
welcher Gentz unerwartet in den letzten Lebensjahren auf's Neue sich
erfüllt sah, und gleich darauf die neuen Erschütterungen der politischen
Welt durch die Julirevolution, haben ihm, wie es scheint, jene Arbeit
aus dem Sinn gerückt, und der Tod ließ ihm keine Zeit, sie wieder
aufzunehmen.


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[0099] noch literarische, in welche er die Gegenstände und den Ertrag seines Lesens einschrieb, ferner solche, die er politische nannte, in welchen er bestimmte Staatshandlungen in ihrer Abwicklung verfolgte, und von denen die bekannte Denkschrift über die Octobertage 18W ein glanz¬ volles Beispiel ist. Gentz bewahrte seine Anmerkungen sorgsam und legte von jeden» Jahre ein abgeschlossenes Heft zu dem wachsenden Vorrache. Jedoch scheint er geraume Zeit sie nicht wieder durchgesehen zu haben; denn als er dies in spätern Jahren einmal that, waren ihm viele der dort erwähn¬ ten Vorgänge gar nicht mehr erinnerlich, oder doch die nähern Be¬ ziehungen entschwunden. Die Aufzeichnung so vieler Einzelheiten, welche ohne ihren eigentlichen Zusammenhang mit dem übrigen Leben allerdings mir wenig besagen konnten, zuweilen auch wohl einen fal¬ schen Schein, einen gar nicht gemeinten Sinn durch die Absonderung empfingen, wurde ihm beim Wiederlesen mißfällig und in vielem Be¬ tracht sogar bedenklich, er beschloß, diese ganze Masse von Heften zu vernichten, jedoch vorher das ihm damals noch persönlich Wichtige oder sonst Bemerkenswerthe daraus in gedrängter Kürze auszuziehen und zu bewahren. Hierbei leitete ihn hauptsächlich der Zweck, die Masse des jetzt nutzlosen und Ueberflüssigen wegzuschaffen, auch manche Ver¬ hältnisse und Menschen zu schonen, nicht im Geringsten aber die Ab¬ sicht, seine eignen Fehler und Verirrungen zu verdecken, und seine Ver¬ gangenheit in's Schöne zu malen; die rückhaltlose Aufrichtigkeit in Betreff seiner selbst verläugnete er auch in der neuen Abfassung nicht. DaS große Unternehmen, diese Auszüge zu machen, scheint Gentz um das Jahr 1829 begonnen, und in kurzer Zeit, unter allen Geschäfts¬ arbeiten und Zerstreuungen, in denen er stets befangen war, führte er dasselbe so weit, daß er die solchergestalt ausgebeuteten, bis zum Schlüsse des Jahres 1814 führenden ursprünglichen Tagebücher den Flammen übergeben konnte. Bis zu dem genannten Zeitpunkt ist da¬ her nur der Auszug als vorhanden anzunehmen, aus den folgenden Jahren jedoch sollen, wie versichert wird, noch eine ziemliche Anzahl der ursprünglichen Notate übrig sein, weil die ausziehende und dann zerstörende Hand an sie erst kommen sollte. Herzensbeschäftignng, mit welcher Gentz unerwartet in den letzten Lebensjahren auf's Neue sich erfüllt sah, und gleich darauf die neuen Erschütterungen der politischen Welt durch die Julirevolution, haben ihm, wie es scheint, jene Arbeit aus dem Sinn gerückt, und der Tod ließ ihm keine Zeit, sie wieder aufzunehmen. IZ*

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 5, 1846, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341550_365123/99>, abgerufen am 23.07.2024.