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Die Grenzboten. Jg. 5, 1846, II. Semester. IV. Band.

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unter die Götter und fand sich so init dem Räthselhaften und Über¬
wältigenden in ihrer Erscheinung ab; unsere Zeit ist von keinem schlech¬
tem Sinne beseelt, indem sie die Heroen des Geistes nicht weniger
verehren, aber sich ihnen menschlich nahe und verwandt fühlen will.

Wir bedauern, daß uns die Weismann'sche Schrift zu den vor¬
stehenden Bemerkungen nicht veranlaßt hat, und daß sie uns im Ge¬
gentheil zu der Warnung zwingt, die oben bezeichnete falsche Vereh¬
rung nicht durch die Oeffnung der Nachträge wieder hereinbrechen zu
lassen").

Hr. Weismann theilt uns nämlich "Exercitien", sage Exercitien
Goethe's aus seinem achten, neunten und zehnten Jahre mit und ist
der Meinung, weil Goethe in seinem Leben so ausführlich von seinen
Kinderjahren spreche, so bleibe er als Autor unvollständig, so lange
wir seinen Werken nicht auch Arbeiten aus seiner Kinderzeit hinzuge¬
fügt hätten. Er behauptet alles Ernstes, daß Goethe schon in dem
ersten Jahrzehend seines Lebens ein selbstbewußtes Genie gewesen sei
und treibt es also noch lange nicht so arg, wie die griechische My¬
thologie, welche den Herkules schon in der Wiege zum Helden macht.

Wir glauben nicht schonender mit Hrn. W. verfahren zu können,
als wenn wir das Gesagte nicht mit seinen eignen Worten anführen.
Gewinnen wir dadurch doch auch Raum für einige ernsthafte Bemer¬
kungen. Wenn nämlich Goethe als Mann ausführlich von seiner Kin¬
derzeit spricht, so hatte er, sollte gleich wahr sein, was David Hume
sagt: It i's llilücnlt l'c>r alni t" sjie-Ul, Imix ol' lümselt vitliout
vunit^, doch dabei keine andere Absicht, als etwa zu zeigen, welcher
Art die Eindrücke gewesen, die er zuerst empfangen, als ein Bild der
Zeit, der Umgebungen und Verhältnisse zu entwerfen, in denen er auf¬
wuchs. Wenn er z. B. erzählt, wie er zum Ergötzen einiger Nach¬
barn allerlei irdenes Geschirr auf die Gasse warf, so will er damit
nichts Geniales gethan haben und ist gar nicht der Meinung, daß die
so entstandenen Scherben besser gewesen seien, als die Scherben von
andern Kindern. Aehnliches, als Hr. W. von dein Kinde Goethe mit¬
theilt und welches in dieser Gestalt, wie er selbst zugibt, gar nicht ein¬
mal von Goethe sein kann, machen viele Kinder von demselben Alter
und derjenige scheint mir daher viel verständiger gehandelt zu haben,



*) Aus Goethe's Kliabenzeit, 1757--1759. Mittheilungen aus einem Origi-
nal-Manuscript der Frankfurter Stadtbibliothek. Erläutert und herausgegeben
von v". H. Weismann. Mit sechs Seiten Facsimile. Frankfurt a. M-, T>.
SauerländerS Verlag, ,184V.

unter die Götter und fand sich so init dem Räthselhaften und Über¬
wältigenden in ihrer Erscheinung ab; unsere Zeit ist von keinem schlech¬
tem Sinne beseelt, indem sie die Heroen des Geistes nicht weniger
verehren, aber sich ihnen menschlich nahe und verwandt fühlen will.

Wir bedauern, daß uns die Weismann'sche Schrift zu den vor¬
stehenden Bemerkungen nicht veranlaßt hat, und daß sie uns im Ge¬
gentheil zu der Warnung zwingt, die oben bezeichnete falsche Vereh¬
rung nicht durch die Oeffnung der Nachträge wieder hereinbrechen zu
lassen").

Hr. Weismann theilt uns nämlich „Exercitien", sage Exercitien
Goethe's aus seinem achten, neunten und zehnten Jahre mit und ist
der Meinung, weil Goethe in seinem Leben so ausführlich von seinen
Kinderjahren spreche, so bleibe er als Autor unvollständig, so lange
wir seinen Werken nicht auch Arbeiten aus seiner Kinderzeit hinzuge¬
fügt hätten. Er behauptet alles Ernstes, daß Goethe schon in dem
ersten Jahrzehend seines Lebens ein selbstbewußtes Genie gewesen sei
und treibt es also noch lange nicht so arg, wie die griechische My¬
thologie, welche den Herkules schon in der Wiege zum Helden macht.

Wir glauben nicht schonender mit Hrn. W. verfahren zu können,
als wenn wir das Gesagte nicht mit seinen eignen Worten anführen.
Gewinnen wir dadurch doch auch Raum für einige ernsthafte Bemer¬
kungen. Wenn nämlich Goethe als Mann ausführlich von seiner Kin¬
derzeit spricht, so hatte er, sollte gleich wahr sein, was David Hume
sagt: It i's llilücnlt l'c>r alni t» sjie-Ul, Imix ol' lümselt vitliout
vunit^, doch dabei keine andere Absicht, als etwa zu zeigen, welcher
Art die Eindrücke gewesen, die er zuerst empfangen, als ein Bild der
Zeit, der Umgebungen und Verhältnisse zu entwerfen, in denen er auf¬
wuchs. Wenn er z. B. erzählt, wie er zum Ergötzen einiger Nach¬
barn allerlei irdenes Geschirr auf die Gasse warf, so will er damit
nichts Geniales gethan haben und ist gar nicht der Meinung, daß die
so entstandenen Scherben besser gewesen seien, als die Scherben von
andern Kindern. Aehnliches, als Hr. W. von dein Kinde Goethe mit¬
theilt und welches in dieser Gestalt, wie er selbst zugibt, gar nicht ein¬
mal von Goethe sein kann, machen viele Kinder von demselben Alter
und derjenige scheint mir daher viel verständiger gehandelt zu haben,



*) Aus Goethe's Kliabenzeit, 1757—1759. Mittheilungen aus einem Origi-
nal-Manuscript der Frankfurter Stadtbibliothek. Erläutert und herausgegeben
von v». H. Weismann. Mit sechs Seiten Facsimile. Frankfurt a. M-, T>.
SauerländerS Verlag, ,184V.
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 5, 1846, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341550_365123/36>, abgerufen am 26.08.2024.