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Die Grenzboten. Jg. 5, 1846, II. Semester. IV. Band.

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tigem Seiten, weil er eine Systematik beeinträchtigt, welche wir in¬
nerhalb der einmal vorgezogenen Linien verlangen, weil in solcher
immerhin gehaltvollen und oft geistvollen Betrachtung die entscheidende
Schärfe fehlt. Dieser Mangel des scharfen Dranges schwächt uns
den eigenen Drang nach Beendigung der Lectüre, weil unser Geist
wittert, daß wir keinen festen Weg zum Ziele, und kein festes Ziel
vor uns haben.

Soll ich mit diesem klagenden Lobe den nahe liegenden Uebergang
suchen zur "Frau Professorin," welche den reizenden Idylliker in die
Stadt lockt? Denn die Stadt ist ja ebenfalls nicht sein Grund und
Boden, und die Personen und Zustände derselben werden gedacht und
nicht erlebt, werden eher grell als wahr erscheinen, ja, die sorgfältigste
Figur, der Collaborator, bleibt ein sogenanntes Avstractum, welches
geistreich erfunden und von Stufe zu Stufe, von Gegensatz zu Gegen¬
satz geführt, aber nicht wirklich belebt ist.

Nein, in solcher einseitigen Betrachtung geschähe dem Autor
durchaus Unrecht. Jedermann sucht sich zu ergänzen nach den Seiten
hin, für welche ihn die Anlage schwächer ausgerüstet hat. Es ist ja
gerade des größten Lobes werth, daß Auerbach den Boden seines
starken Talentes so tapfer zu erweitern sucht, daß er uns in seinem
"Schrift und Volk" an die Gedankenwelt seiner Formen, daß er uns
in der "Frau Professorin" an den Gegensatz seiner Jdyllenwelt führt,
an die steifen Pfähle und Menschen der kleinen Residenzstadt. Jeden¬
falls hat er den letzten Zweck dieses Unternehmens vortrefflich erreicht
und mit diesem Gegensatze eine durchgeführte Poesie seines "Lorle"
gewonnen, welches zu seinen schönsten Schöpfungen gehört. In dieser
blos biographischen Aufgabe hat er für dies Lorle eine hinreißende
Meisterschaft bewährt, ja Lorle ist vielleicht das vollkommenste Por¬
trait, welches er bisher ausgeführt hat lind in dieser Vollkommenheit
allein hinreichend, ihm ein unvergängliches Lob des Poeten zu sichern.
Seien all die mitspielenden Figuren für den strengsten Kritiker auch
nur zur Füllung und zum Wiederscheine vorhanden, weil sie nicht tie¬
fer und länger in die Entwickelung des Ganzen eingreifen, sei dieser
meisterhaft gezeichnete Wadeleswirth, dieser so reizend angehauchte
Wendelin, ja selbst dieser richtig gedachte Malergatte Reinhold für
die höchsten Forderungen an ein durchgearbeitetes Gemälde dem Ma--
lerausdrucke nach nur "Staffage" -- erfüllen sie nicht für die darzu¬
stellende Lebensgeschichte Lorles ihre Aufgabe? Wird nicht Lorle ein
unvergeßliches Meisterstück? Wie kraftvoll und bezaubernd lebendig


tigem Seiten, weil er eine Systematik beeinträchtigt, welche wir in¬
nerhalb der einmal vorgezogenen Linien verlangen, weil in solcher
immerhin gehaltvollen und oft geistvollen Betrachtung die entscheidende
Schärfe fehlt. Dieser Mangel des scharfen Dranges schwächt uns
den eigenen Drang nach Beendigung der Lectüre, weil unser Geist
wittert, daß wir keinen festen Weg zum Ziele, und kein festes Ziel
vor uns haben.

Soll ich mit diesem klagenden Lobe den nahe liegenden Uebergang
suchen zur „Frau Professorin," welche den reizenden Idylliker in die
Stadt lockt? Denn die Stadt ist ja ebenfalls nicht sein Grund und
Boden, und die Personen und Zustände derselben werden gedacht und
nicht erlebt, werden eher grell als wahr erscheinen, ja, die sorgfältigste
Figur, der Collaborator, bleibt ein sogenanntes Avstractum, welches
geistreich erfunden und von Stufe zu Stufe, von Gegensatz zu Gegen¬
satz geführt, aber nicht wirklich belebt ist.

Nein, in solcher einseitigen Betrachtung geschähe dem Autor
durchaus Unrecht. Jedermann sucht sich zu ergänzen nach den Seiten
hin, für welche ihn die Anlage schwächer ausgerüstet hat. Es ist ja
gerade des größten Lobes werth, daß Auerbach den Boden seines
starken Talentes so tapfer zu erweitern sucht, daß er uns in seinem
„Schrift und Volk" an die Gedankenwelt seiner Formen, daß er uns
in der „Frau Professorin" an den Gegensatz seiner Jdyllenwelt führt,
an die steifen Pfähle und Menschen der kleinen Residenzstadt. Jeden¬
falls hat er den letzten Zweck dieses Unternehmens vortrefflich erreicht
und mit diesem Gegensatze eine durchgeführte Poesie seines „Lorle"
gewonnen, welches zu seinen schönsten Schöpfungen gehört. In dieser
blos biographischen Aufgabe hat er für dies Lorle eine hinreißende
Meisterschaft bewährt, ja Lorle ist vielleicht das vollkommenste Por¬
trait, welches er bisher ausgeführt hat lind in dieser Vollkommenheit
allein hinreichend, ihm ein unvergängliches Lob des Poeten zu sichern.
Seien all die mitspielenden Figuren für den strengsten Kritiker auch
nur zur Füllung und zum Wiederscheine vorhanden, weil sie nicht tie¬
fer und länger in die Entwickelung des Ganzen eingreifen, sei dieser
meisterhaft gezeichnete Wadeleswirth, dieser so reizend angehauchte
Wendelin, ja selbst dieser richtig gedachte Malergatte Reinhold für
die höchsten Forderungen an ein durchgearbeitetes Gemälde dem Ma--
lerausdrucke nach nur „Staffage" — erfüllen sie nicht für die darzu¬
stellende Lebensgeschichte Lorles ihre Aufgabe? Wird nicht Lorle ein
unvergeßliches Meisterstück? Wie kraftvoll und bezaubernd lebendig


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[0352] tigem Seiten, weil er eine Systematik beeinträchtigt, welche wir in¬ nerhalb der einmal vorgezogenen Linien verlangen, weil in solcher immerhin gehaltvollen und oft geistvollen Betrachtung die entscheidende Schärfe fehlt. Dieser Mangel des scharfen Dranges schwächt uns den eigenen Drang nach Beendigung der Lectüre, weil unser Geist wittert, daß wir keinen festen Weg zum Ziele, und kein festes Ziel vor uns haben. Soll ich mit diesem klagenden Lobe den nahe liegenden Uebergang suchen zur „Frau Professorin," welche den reizenden Idylliker in die Stadt lockt? Denn die Stadt ist ja ebenfalls nicht sein Grund und Boden, und die Personen und Zustände derselben werden gedacht und nicht erlebt, werden eher grell als wahr erscheinen, ja, die sorgfältigste Figur, der Collaborator, bleibt ein sogenanntes Avstractum, welches geistreich erfunden und von Stufe zu Stufe, von Gegensatz zu Gegen¬ satz geführt, aber nicht wirklich belebt ist. Nein, in solcher einseitigen Betrachtung geschähe dem Autor durchaus Unrecht. Jedermann sucht sich zu ergänzen nach den Seiten hin, für welche ihn die Anlage schwächer ausgerüstet hat. Es ist ja gerade des größten Lobes werth, daß Auerbach den Boden seines starken Talentes so tapfer zu erweitern sucht, daß er uns in seinem „Schrift und Volk" an die Gedankenwelt seiner Formen, daß er uns in der „Frau Professorin" an den Gegensatz seiner Jdyllenwelt führt, an die steifen Pfähle und Menschen der kleinen Residenzstadt. Jeden¬ falls hat er den letzten Zweck dieses Unternehmens vortrefflich erreicht und mit diesem Gegensatze eine durchgeführte Poesie seines „Lorle" gewonnen, welches zu seinen schönsten Schöpfungen gehört. In dieser blos biographischen Aufgabe hat er für dies Lorle eine hinreißende Meisterschaft bewährt, ja Lorle ist vielleicht das vollkommenste Por¬ trait, welches er bisher ausgeführt hat lind in dieser Vollkommenheit allein hinreichend, ihm ein unvergängliches Lob des Poeten zu sichern. Seien all die mitspielenden Figuren für den strengsten Kritiker auch nur zur Füllung und zum Wiederscheine vorhanden, weil sie nicht tie¬ fer und länger in die Entwickelung des Ganzen eingreifen, sei dieser meisterhaft gezeichnete Wadeleswirth, dieser so reizend angehauchte Wendelin, ja selbst dieser richtig gedachte Malergatte Reinhold für die höchsten Forderungen an ein durchgearbeitetes Gemälde dem Ma-- lerausdrucke nach nur „Staffage" — erfüllen sie nicht für die darzu¬ stellende Lebensgeschichte Lorles ihre Aufgabe? Wird nicht Lorle ein unvergeßliches Meisterstück? Wie kraftvoll und bezaubernd lebendig

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 5, 1846, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341550_365123/352>, abgerufen am 23.07.2024.