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Die Grenzboten. Jg. 5, 1846, II. Semester. IV. Band.

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welcher sein Gut abgelöst hat, betrachtet sich als Freiherrn, und der
Bürger sieht auf ihn nicht mehr stolz herab, sondern in ihm einen
Ebenbürtigen. Jener redet mit dem Gebildeten in der Sprache der
Gebildeten; er kannegießert nicht mehr, wie vordem, zur Belustigung
städtischer Zuhörer, sondern bespricht oft recht verständig öffentliche An¬
gelegenheiten, obgleich noch etwas derb und fast ohne Ausnahme aus
dem Gesichtspunkte der materiellsten Interessen. Was kirchliche Fra¬
gen betrifft, so hat er seine eigenen Gedanken. Ein Bauer beschwich¬
tigte die den Zeitungen entnommenen Befürchtungen seiner Genossen
in der Dorfschenke hinsichtlich der Berliner geistlichen Berathungen vor
Kurzem mit den Worten: "Wenn dort beschlossen wird, was uns nicht
gefällt, so gehen wir Sonntags nicht nach der Kirche, sondern in un¬
sern Feldern spazieren,"

Der Unterricht muß sich seiner wesentlichen Beschaffenheit nach
an den Verstand wenden, denn er soll vom Schüler geistig erfaßt und
durchdrungen, d. h. verstanden und so viel als thunlich auch begriffen
werden. Daraus entspringt die (jetzt oft gescholtene) einseitige Ver¬
standesbildung, welche das nachfolgende Leben weit häufiger zu gemei¬
ner Klugheit erniedrigt, als zu Weisheit erhebt. Es fehlt eben die
Erziehung dabei, welche die andere Seite des Bildungsgcschäfts ist
und den Unterricht zu vollkommener Bildung ergänzt. Deshalb ha¬
ben auch die Klagen über die Schädlichkeit der Verbreitung deö Un¬
terrichts einen scheinbaren Grund für sich, welcher auf Machthaber,
sofern sie die innern Zustände des Volks blos oberflächlich kennen und
alles Heil von der Verwirklichung ihrer deshalb erfahrungsunsichern
Ansichten erwarten, verderblich zurückwirkt, weil sie, ohne Zweifel von
den besten Absichten geleitet, Wahres und Falsches nach willkürlichen
Vorstellungen vom wahren Bestände der Dinge durcheinander mengen
und das Uebel nicht da zu finden wissen, wo es in der That sitzt.
So hat man, ganz unzweifelhaft in der besten Absicht, Anordnungen
für die Weise, in den Religionskenntnissen und dem überlieferten kirch¬
lichen Glauben zu unterrichten getroffen, welche, ich mag nicht grade
sagen, mit den herrschenden Ansichten und dem gemeinen Bewußtsein
der Zeitgenossen, aber offenbar mit dem Wesen des Schulunterrichts
im grellsten Widerstreite steht. Denn in allen übrigen Zweigen des
Schulunterrichts dringt der Lehrer auf das innigste Verständniß des
Gegenstandes und muß, als guter Lehrer, dieses aus allen Kräften zu.
bewirken suchen; im sogenannten Religionsunterrichte dagegen weicht
er von seinem Verfahren gänzlich ab; er beruft sich auf ein äußeres


welcher sein Gut abgelöst hat, betrachtet sich als Freiherrn, und der
Bürger sieht auf ihn nicht mehr stolz herab, sondern in ihm einen
Ebenbürtigen. Jener redet mit dem Gebildeten in der Sprache der
Gebildeten; er kannegießert nicht mehr, wie vordem, zur Belustigung
städtischer Zuhörer, sondern bespricht oft recht verständig öffentliche An¬
gelegenheiten, obgleich noch etwas derb und fast ohne Ausnahme aus
dem Gesichtspunkte der materiellsten Interessen. Was kirchliche Fra¬
gen betrifft, so hat er seine eigenen Gedanken. Ein Bauer beschwich¬
tigte die den Zeitungen entnommenen Befürchtungen seiner Genossen
in der Dorfschenke hinsichtlich der Berliner geistlichen Berathungen vor
Kurzem mit den Worten: „Wenn dort beschlossen wird, was uns nicht
gefällt, so gehen wir Sonntags nicht nach der Kirche, sondern in un¬
sern Feldern spazieren,"

Der Unterricht muß sich seiner wesentlichen Beschaffenheit nach
an den Verstand wenden, denn er soll vom Schüler geistig erfaßt und
durchdrungen, d. h. verstanden und so viel als thunlich auch begriffen
werden. Daraus entspringt die (jetzt oft gescholtene) einseitige Ver¬
standesbildung, welche das nachfolgende Leben weit häufiger zu gemei¬
ner Klugheit erniedrigt, als zu Weisheit erhebt. Es fehlt eben die
Erziehung dabei, welche die andere Seite des Bildungsgcschäfts ist
und den Unterricht zu vollkommener Bildung ergänzt. Deshalb ha¬
ben auch die Klagen über die Schädlichkeit der Verbreitung deö Un¬
terrichts einen scheinbaren Grund für sich, welcher auf Machthaber,
sofern sie die innern Zustände des Volks blos oberflächlich kennen und
alles Heil von der Verwirklichung ihrer deshalb erfahrungsunsichern
Ansichten erwarten, verderblich zurückwirkt, weil sie, ohne Zweifel von
den besten Absichten geleitet, Wahres und Falsches nach willkürlichen
Vorstellungen vom wahren Bestände der Dinge durcheinander mengen
und das Uebel nicht da zu finden wissen, wo es in der That sitzt.
So hat man, ganz unzweifelhaft in der besten Absicht, Anordnungen
für die Weise, in den Religionskenntnissen und dem überlieferten kirch¬
lichen Glauben zu unterrichten getroffen, welche, ich mag nicht grade
sagen, mit den herrschenden Ansichten und dem gemeinen Bewußtsein
der Zeitgenossen, aber offenbar mit dem Wesen des Schulunterrichts
im grellsten Widerstreite steht. Denn in allen übrigen Zweigen des
Schulunterrichts dringt der Lehrer auf das innigste Verständniß des
Gegenstandes und muß, als guter Lehrer, dieses aus allen Kräften zu.
bewirken suchen; im sogenannten Religionsunterrichte dagegen weicht
er von seinem Verfahren gänzlich ab; er beruft sich auf ein äußeres


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 5, 1846, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341550_365123/277>, abgerufen am 23.07.2024.