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Die Grenzboten. Jg. 5, 1846, II. Semester. IV. Band.

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So lesen wir im Sismondi, daß die italienische" Städre zuletzt das
Feld nicht mehr halten konnten gegen den Adel, als dieser anfing, in
schwerem, eisernen Harnisch zu Pferde zu kämpfen. -- Es gehörte
dazu eine von Kindesbeinen an täglich fortgesetzte Uebung, und diese
Lastträger-Kunst überwand die Städter, die ihre Zeit zu andern Din¬
gen nöthig hatten. -- Das Pulver hat die Vertheidigungsmittel statt
in die Stärke des Körpers, in die Erfindungskraft des Geistes gelegt,
und heut zu Tage geht kein Volk mehr unter, weil es der Cultur
seines Geistes zu sehr obgelegen. -- Wenn die alten Philosophen und
Denker die Leichenraben ihrer Volker waren, so sind die unseren die
Sturmvögel der Kämpfe, in denen wir uns verjüngen und entwickeln.
"Und doch," erwiderte ich, "muß jedes Volk zu Grinde gehen, da
jede Persönlichkeit ihrem Begriffe nach endlich ist. -- Wenn die alten
Völker unterjocht oder geschlachtet wurden, so werden die modernen,
geschichtlichen Völker sich auflösen und ineinander verschmelzen. Doch
was sagst Du, Maria, zu unserer Sicherheit in der Civilisation? Du
siyest so sinnend mit gekreuzten Armen, und der Abendwind bewegt
deine dunkeln Locken so geheimnißvoll, als wenn Geister dir die Weis¬
heit des ewigen Meeres in die Ohren raunten." -- "Mich kümmert
die Geschichte sehr wenig," sagte sie mit herausforderndem Blicke, "und
noch weniger der Grad, um den ihr cultivirter sein wollt, als die
Alten. Nur so viel weiß ich, daß die Welt noch unendlich roh und
langweilig ist, so daß es kaum der Mühe sich verlohnt, in ihr zu le¬
ben. -- Was ist leben und genießen, wenn man nicht für sich und
mit sich gänzlich frei und allein sein darf, so frei und so einsam, wie
dort das Meer? -- Seht die großen, ruhigen Wogen, immer gleich
folgen sie aufeinander, wie der Pulsschlag eines mächtigen, in sich be¬
ruhigten Lebens. -- Nur wer so schrankenlos sich selbst besitzt, der
kann auch schrankenlos sich geben, das heißt lieben und leben." --
"Aber um Gotteswillen," sagte Fernand, "wo sollte das hinaus? nur
durch die Gemeinsamkeit der Mensche" ist alles Große geschehe"; wollten
wir uns isolire", würde" wir zur Barbarei zurückkehre". -- Dies Le¬
ben in der Geschichte ist unser Ersatz für die mangelnde Freiheit." --
"Für Euch vielleicht," sagte sie, "für mich nicht. Willst Du mir im
Ernste zumuthe", Interesse zu finden an dieser Geschichte, in ver man
nnr als wildes Thier, als Betrüger oder beschränkter Enthusiast eine
Rolle spielen kann, lind niemals der Mensch in Betracht kommt? --
Bringt mir sie her, dure Helden des Tages, und die Frau wird Euch
sagen, ob ihre Natur eine gemeine oder edle sei, was menschlich, was


So lesen wir im Sismondi, daß die italienische» Städre zuletzt das
Feld nicht mehr halten konnten gegen den Adel, als dieser anfing, in
schwerem, eisernen Harnisch zu Pferde zu kämpfen. — Es gehörte
dazu eine von Kindesbeinen an täglich fortgesetzte Uebung, und diese
Lastträger-Kunst überwand die Städter, die ihre Zeit zu andern Din¬
gen nöthig hatten. — Das Pulver hat die Vertheidigungsmittel statt
in die Stärke des Körpers, in die Erfindungskraft des Geistes gelegt,
und heut zu Tage geht kein Volk mehr unter, weil es der Cultur
seines Geistes zu sehr obgelegen. — Wenn die alten Philosophen und
Denker die Leichenraben ihrer Volker waren, so sind die unseren die
Sturmvögel der Kämpfe, in denen wir uns verjüngen und entwickeln.
„Und doch," erwiderte ich, „muß jedes Volk zu Grinde gehen, da
jede Persönlichkeit ihrem Begriffe nach endlich ist. — Wenn die alten
Völker unterjocht oder geschlachtet wurden, so werden die modernen,
geschichtlichen Völker sich auflösen und ineinander verschmelzen. Doch
was sagst Du, Maria, zu unserer Sicherheit in der Civilisation? Du
siyest so sinnend mit gekreuzten Armen, und der Abendwind bewegt
deine dunkeln Locken so geheimnißvoll, als wenn Geister dir die Weis¬
heit des ewigen Meeres in die Ohren raunten." — „Mich kümmert
die Geschichte sehr wenig," sagte sie mit herausforderndem Blicke, „und
noch weniger der Grad, um den ihr cultivirter sein wollt, als die
Alten. Nur so viel weiß ich, daß die Welt noch unendlich roh und
langweilig ist, so daß es kaum der Mühe sich verlohnt, in ihr zu le¬
ben. — Was ist leben und genießen, wenn man nicht für sich und
mit sich gänzlich frei und allein sein darf, so frei und so einsam, wie
dort das Meer? — Seht die großen, ruhigen Wogen, immer gleich
folgen sie aufeinander, wie der Pulsschlag eines mächtigen, in sich be¬
ruhigten Lebens. — Nur wer so schrankenlos sich selbst besitzt, der
kann auch schrankenlos sich geben, das heißt lieben und leben." —
„Aber um Gotteswillen," sagte Fernand, „wo sollte das hinaus? nur
durch die Gemeinsamkeit der Mensche» ist alles Große geschehe»; wollten
wir uns isolire», würde» wir zur Barbarei zurückkehre». — Dies Le¬
ben in der Geschichte ist unser Ersatz für die mangelnde Freiheit." —
„Für Euch vielleicht," sagte sie, „für mich nicht. Willst Du mir im
Ernste zumuthe», Interesse zu finden an dieser Geschichte, in ver man
nnr als wildes Thier, als Betrüger oder beschränkter Enthusiast eine
Rolle spielen kann, lind niemals der Mensch in Betracht kommt? —
Bringt mir sie her, dure Helden des Tages, und die Frau wird Euch
sagen, ob ihre Natur eine gemeine oder edle sei, was menschlich, was


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 5, 1846, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341550_365123/25>, abgerufen am 26.08.2024.