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Die Grenzboten. Jg. 5, 1846, II. Semester. IV. Band.

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Standpunktes. Dadurch entsteht die oft witzige und immer lehrreiche
Wirksamkeit seiner Schilderung. Es ist gar zu überraschend, oft blitz¬
artig erschreckend, wenn die unwandelbaren Grundsätze des Mittelreiches
gewissen Grundsätzen eines uns nahe stehenden Reiches ähnlich lauten
und in der Stunde der Prüfung kraftlos zerbrechen. "Eine genauere
Kenntniß der Geschichte des Mittelreichs und seiner Institutionen," sagt
Neumann sehr richtig im Vorworte, "scheint in unsern höchstbewegten
Zeiten, abgesehen von ihrem eignen selbständigen Werthe, selbst ein prak¬
tisches, ich möchte sagen ein vaterländisches Interesse darzubieten. ES
zeigt nämlich die Geschichte China's und aller Länder seines Cultur-
systemö, wie thöricht es ist, die Macht eines Staates einzig und allein
auf einer Äußerlichen mechanischen Ordnung, auf veraltetem Herkommen
und auf einer geistlosen, gewinnsüchtigen Industrie aufbauen zu wollen.
Es lehrt diese Geschichte, daß Derjenige seinen eignen Untergang vor¬
bereitet, welcher glaubt, die selbständige, ewig Neues gestaltende Geistes¬
kraft und die sich maßgebende moralische Ueberzeugung entbehren zu
können."

Daß wir nun auch grade dem beliebten Symbole, dem Zopfe in
größter Ausbildung hier begegnen, das erhöht den witzigen Eindruck.
Ich kann mir nicht versagen, einige Gedankenpunkte des ChinesenthumS
auszuzeichnen für unsere Erbauung.

"Von einem Schöpfer im biblischen Sinne des Worts, von einer
Schöpfung aus Nichts" hat man in China nie etwas gewußt. "Alles
wird aus dem Urgethüme, der Himmel sowohl wie die Erde, der Mensch
und die übrigen Wesen." Da gibt's kein Paradies, keinen Sünden¬
fall; der Mensch entwickelt sich von der Thierheit auf frei, und bringt
es doch, wie mit Paradies und Sündenfalle, zum System des Despo¬
tismus. Nicht historisch, wie anderswo, sondern logisch. Tugend und
Gerechtigkeit heißen die Grundpfeiler des Staates -- klingt dies
nicht verführerisch? Aber was wird aus Tugend und Gerechtigkeit,
wenn das jedem Menschen "angeborne Streben nach Aus- und Fort¬
bildung, nach Neuem und Ungewöhnlichem gebannt und bis in's Ein¬
zelne mit eiserner Folgerichtigkeit entfernt gehalten wird?" Keine Ver¬
änderung, selbst nicht im Unscheinbarsten! das hat Tugend und Ge¬
rechtigkeit zu hohlen, lügnerischen Worten, das Volk zu einem seichten,
äußerlichen, in Wahrheit nichtigen Volke gemacht. "Die Freiheit un¬
serer gelehrten Republik," sagt der chinesische Jesuit P. Ko, "ist blos
Gnade; der Drache des Gesetzes verfolgt das Talent und das Genie
auf ihren glänzendsten Flügen; das Schwert des Gesetzes, daS ub^r


Standpunktes. Dadurch entsteht die oft witzige und immer lehrreiche
Wirksamkeit seiner Schilderung. Es ist gar zu überraschend, oft blitz¬
artig erschreckend, wenn die unwandelbaren Grundsätze des Mittelreiches
gewissen Grundsätzen eines uns nahe stehenden Reiches ähnlich lauten
und in der Stunde der Prüfung kraftlos zerbrechen. „Eine genauere
Kenntniß der Geschichte des Mittelreichs und seiner Institutionen," sagt
Neumann sehr richtig im Vorworte, „scheint in unsern höchstbewegten
Zeiten, abgesehen von ihrem eignen selbständigen Werthe, selbst ein prak¬
tisches, ich möchte sagen ein vaterländisches Interesse darzubieten. ES
zeigt nämlich die Geschichte China's und aller Länder seines Cultur-
systemö, wie thöricht es ist, die Macht eines Staates einzig und allein
auf einer Äußerlichen mechanischen Ordnung, auf veraltetem Herkommen
und auf einer geistlosen, gewinnsüchtigen Industrie aufbauen zu wollen.
Es lehrt diese Geschichte, daß Derjenige seinen eignen Untergang vor¬
bereitet, welcher glaubt, die selbständige, ewig Neues gestaltende Geistes¬
kraft und die sich maßgebende moralische Ueberzeugung entbehren zu
können."

Daß wir nun auch grade dem beliebten Symbole, dem Zopfe in
größter Ausbildung hier begegnen, das erhöht den witzigen Eindruck.
Ich kann mir nicht versagen, einige Gedankenpunkte des ChinesenthumS
auszuzeichnen für unsere Erbauung.

„Von einem Schöpfer im biblischen Sinne des Worts, von einer
Schöpfung aus Nichts" hat man in China nie etwas gewußt. „Alles
wird aus dem Urgethüme, der Himmel sowohl wie die Erde, der Mensch
und die übrigen Wesen." Da gibt's kein Paradies, keinen Sünden¬
fall; der Mensch entwickelt sich von der Thierheit auf frei, und bringt
es doch, wie mit Paradies und Sündenfalle, zum System des Despo¬
tismus. Nicht historisch, wie anderswo, sondern logisch. Tugend und
Gerechtigkeit heißen die Grundpfeiler des Staates — klingt dies
nicht verführerisch? Aber was wird aus Tugend und Gerechtigkeit,
wenn das jedem Menschen „angeborne Streben nach Aus- und Fort¬
bildung, nach Neuem und Ungewöhnlichem gebannt und bis in's Ein¬
zelne mit eiserner Folgerichtigkeit entfernt gehalten wird?" Keine Ver¬
änderung, selbst nicht im Unscheinbarsten! das hat Tugend und Ge¬
rechtigkeit zu hohlen, lügnerischen Worten, das Volk zu einem seichten,
äußerlichen, in Wahrheit nichtigen Volke gemacht. „Die Freiheit un¬
serer gelehrten Republik," sagt der chinesische Jesuit P. Ko, „ist blos
Gnade; der Drache des Gesetzes verfolgt das Talent und das Genie
auf ihren glänzendsten Flügen; das Schwert des Gesetzes, daS ub^r


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[0148] Standpunktes. Dadurch entsteht die oft witzige und immer lehrreiche Wirksamkeit seiner Schilderung. Es ist gar zu überraschend, oft blitz¬ artig erschreckend, wenn die unwandelbaren Grundsätze des Mittelreiches gewissen Grundsätzen eines uns nahe stehenden Reiches ähnlich lauten und in der Stunde der Prüfung kraftlos zerbrechen. „Eine genauere Kenntniß der Geschichte des Mittelreichs und seiner Institutionen," sagt Neumann sehr richtig im Vorworte, „scheint in unsern höchstbewegten Zeiten, abgesehen von ihrem eignen selbständigen Werthe, selbst ein prak¬ tisches, ich möchte sagen ein vaterländisches Interesse darzubieten. ES zeigt nämlich die Geschichte China's und aller Länder seines Cultur- systemö, wie thöricht es ist, die Macht eines Staates einzig und allein auf einer Äußerlichen mechanischen Ordnung, auf veraltetem Herkommen und auf einer geistlosen, gewinnsüchtigen Industrie aufbauen zu wollen. Es lehrt diese Geschichte, daß Derjenige seinen eignen Untergang vor¬ bereitet, welcher glaubt, die selbständige, ewig Neues gestaltende Geistes¬ kraft und die sich maßgebende moralische Ueberzeugung entbehren zu können." Daß wir nun auch grade dem beliebten Symbole, dem Zopfe in größter Ausbildung hier begegnen, das erhöht den witzigen Eindruck. Ich kann mir nicht versagen, einige Gedankenpunkte des ChinesenthumS auszuzeichnen für unsere Erbauung. „Von einem Schöpfer im biblischen Sinne des Worts, von einer Schöpfung aus Nichts" hat man in China nie etwas gewußt. „Alles wird aus dem Urgethüme, der Himmel sowohl wie die Erde, der Mensch und die übrigen Wesen." Da gibt's kein Paradies, keinen Sünden¬ fall; der Mensch entwickelt sich von der Thierheit auf frei, und bringt es doch, wie mit Paradies und Sündenfalle, zum System des Despo¬ tismus. Nicht historisch, wie anderswo, sondern logisch. Tugend und Gerechtigkeit heißen die Grundpfeiler des Staates — klingt dies nicht verführerisch? Aber was wird aus Tugend und Gerechtigkeit, wenn das jedem Menschen „angeborne Streben nach Aus- und Fort¬ bildung, nach Neuem und Ungewöhnlichem gebannt und bis in's Ein¬ zelne mit eiserner Folgerichtigkeit entfernt gehalten wird?" Keine Ver¬ änderung, selbst nicht im Unscheinbarsten! das hat Tugend und Ge¬ rechtigkeit zu hohlen, lügnerischen Worten, das Volk zu einem seichten, äußerlichen, in Wahrheit nichtigen Volke gemacht. „Die Freiheit un¬ serer gelehrten Republik," sagt der chinesische Jesuit P. Ko, „ist blos Gnade; der Drache des Gesetzes verfolgt das Talent und das Genie auf ihren glänzendsten Flügen; das Schwert des Gesetzes, daS ub^r

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 5, 1846, II. Semester. IV. Band, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341550_365123/148>, abgerufen am 03.07.2024.